100 Jahre Iwan Agrusow

Zum 100. Geburtstag des Gründers der IGFM, Iwan Iwanowitsch Agrusow, veröffentlicht die IGFM eine Kurz-Biographie in Erinnerung an den demütigen Macher, der sein Leben in den Dienst der Menschenrechte stellte.

Der demütige Macher

Iwan Iwanowitsch Agrusow

Iwan Iwanowitsch Agrusow †, der Gründer und langjährige Vorsitzende der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), war ein demütiger Mensch, der seine Person nie in den Mittelpunkt, sondern immer in den Dienst für die Menschenrechte, stellte. Er war bereit, für die Sache, an die er glaubte, mit seinem Leben einzustehen. Menschen wie ihn, die auch in Extremsituationen stets zu ihrer Überzeugung standen, gab und gibt es nicht viele. Als 17-Jähriger wurde er in der Nähe seines Heimatortes Petschory an der estnisch-russischen Grenze von der deutschen Wehrmacht als Zwangsarbeiter im Bau-Bataillon „Tod“ rekrutiert, das dort für Anpassung der Bahnschienen zuständig war. Später wurde er nach dem Rückzug der Deutschen in der bayrischen Gemeinde Sengenthal (bei Neumarkt) als Zwangsarbeiter in einer Zementfabrik eingesetzt, wo er das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte. Schnell fand er dort Arbeit als Haumeister in einem Schulgebäude, das als Lager für sowjetische verwundete Militärs diente. Bei der plötzlichen Verlagerung dieser Insassen in ein sowjetisches Militärlager nach Prag durch die Amerikaner wurde nicht lange gefackelt, und so geriet Agrusow in die Hände der Sowjets.

„Die Amerikaner haben uns ausgeladen, ‚Bye Bye‘ gesagt und sind abgefahren. Sie haben ‚Winke, winke‘ gemacht, uns alles Gute gewünscht und sind einfach abgefahren, ohne sich dabei etwas zu denken. Das werde ich nie vergessen.“

In Prag gab es das erste Wiedersehen mit Vertretern der Heimat. Ein Oberst mit blankgeputzten Stiefeln, so erinnerte sich Agrusow, erklärte den nichtmilitärischen Neuankömmlingen gleich, was sie zu erwarten hatten. Nämlich keine gemütliche Wohnung. Vielmehr betrachte man sie als Vaterlandsverräter und als solche hatten sie bestenfalls mit dem Gulag zu rechnen. Dann mussten sich alle ausziehen, die Haare wurden geschoren, und nackt in einer Reihe stehend wurden ihre Daten aufgenommen. Indem Agrusow seinen Koffer mit seinem ganzen Hab und Gut an einen tschechoslowakischen Wärter vergab, gelang ihm über diesen die Flucht aus dem sowjetischen Lager in Prag. Von dort aus schlich er sich bei Dunkelheit durch die Wälder bis in eines der ersten Flüchtlingslager der damaligen United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) für Zwangsarbeiter aus dem Osten in der Nähe von Pilsen. So gelang ihm sozusagen die „Rückflucht“ nach Deutschland, und schon hier entwickelte Agrusow durch eine prägende Begegnung während der Zugfahrt die Idee der Gründung eines Menschenrechtsvereins. Es war ein jüdischer Gulaghäftling auf der Reise nach Israel, dessen Erzählungen bei Agrusow zu einer einschneidenden Erkenntnis führten: Immer, wenn es aus dem Ausland Aufmerksamkeit für sein Schicksal gegeben hatte, so der ehemalige Häftling, habe dies zu einer Verbesserung seiner Behandlung im Lager geführt.

Der Effekt sei unmittelbar zu spüren gewesen, beispielsweise durch den Erhalt einer vollen Essensration. Das Leid dieses und der unzähligen anderen Opfer Stalins im Gulagsystem war Agrusow gut bekannt. Und nur durch die Brille dieses Leids, dieses Schmerzes und des tiefen Mitgefühls als Antwort darauf, lässt sich der Mensch Agrusow und sein lebenslanges Engagement richtig verstehen. Seine geliebte Mutter und seine engste Familie hatte er zeitlebens nie wiedergesehen. Wie sehr er sein Heimatland liebte, zeigte sich im Laufe seines Lebens im Zwangsexil in der Fremde. In den deutschen Ankunftslagern für Zwangsarbeiter aus dem Osten warb die größte und lange Zeit bedeutendste russische Exilorganisation NTS um neue Mitglieder und Unterstützer im Kampf gegen das Stalinregime. Der junge Agrusow schloss sich ihr an. Nach einer Ausbildung zum Radio- und Fernsehtechniker in Arolsen bei Kassel war er lange Zeit in der aufklärenden Radioübertragung von Nachrichten in den Osten tätig. Dies war zu Beginn ein sehr abenteuerliches Unterfangen, und während er mit einem kleinen Team in einem Waldstück einen Baum hochkletterte, um dort eine Antenne zu positionieren, wurde dieses sich darbietende merkwürdige Schauspiel von einer britischen Militäreinheit in Göttingen gestoppt. Alle wurden als verdächtige Sowjetspione verhaftet. Nach einwöchiger Haft und Überprüfung durch die Briten wurden alle wieder auf freien Fuß gesetzt. Agrusow hatte sich währenddessen mit einem britischen Polizisten angefreundet und dessen Hund übernommen. Doch mit der Zeit hielt Agrusow die Methoden und die Philosophie der NTS für von der Realität überholt und beendete seine Mitgliedschaft. Mit der Entstehung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

Immer ein herzliches Lächeln parat, Iwan Agrusow bei der IGFM-Jahrestagung 2006

wandte er sich an bekannte Völkerrechtler und Juristen, die zu Menschenrechten im Ost-West-Konflikt arbeiteten und fragte sie, ob sie Interesse an der Gründung eines Menschenrechtsvereins hätten. „Ich dachte, die besten Menschen hierfür seien die Juristen, weil sie die Gesetze kennen und wissen, wie man das formuliert, wenn die Gesetze und Rechte verletzt werden. Aber das hatte sich als Trugschluss herausgestellt. Die Leute konnten zwar entsprechend formulieren, sich aber nicht einsetzen für die Rechte.“  So entschloss er sich im Jahr 1972 auf seine private Initiative hin und ohne professionelle Unterstützung zur Gründung der damaligen Gesellschaft für Menschenrechte6. Die notwendige Anzahl an Unterschriften für eine Vereinsgründung trug er aus seinem Bekanntenkreis zusammen. Damit war der erste Schritt gemacht: die Gründung eines Vereins. Größte Bedeutung hatte für Agrusow stets das kleine Wörtchen „für“ im Vereinsnamen. Denn es ging ihm in seiner Arbeit immer um den Einsatz für die Menschenrechte, der über den Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen hinausgeht. Sich für Menschenrechte einzusetzen, sei ein ganz anderer und ungleich schwierigerer Grundansatz. Denn er mache es erforderlich, etwas Positives zu tun, mehr zu tun, als nur die „Bösen“ zu benennen.

Für die Menschenrechte zu arbeiten, bedeute, etwas für die Opfer der Bösen oder des Boshaften zu tun. Diese Grundorientierung zog sich wie ein roter Faden durch Agrusows Engagement. Reiner Protest und alleinige Kritik stießen bei Agrusow auf taube Ohren, dafür fehlte ihm die Zeit. Kam Kritik allerdings von jemandem, der gleichzeitig einen realistischen und besseren Alternativplan vorlegen konnte, so beschäftigte er sich damit. Im nächsten Schritt mussten Mitarbeiter für die neu gegründete Gesellschaft für Menschenrechte gefunden werden, denn alleine war der Aufbau einer professionellen und wirkungskräftigen Menschenrechtsarbeit nicht zu bewältigen. Dabei hatte Agrusow klare Vorstellungen, was potenzielle Mitarbeiter mitbringen mussten: Seiner Erfahrung nach (beispielsweise mit den Juristen), kam es weniger auf Ausbildung und fachliche Qualifikation an. Viel wichtiger war, dass die Menschen bereit waren, ihre Zeit für die Sache der Menschenrechte zur Verfügung zu stellen, ohne dafür in erster Linie auf die Vergütung zu schauen. Einstellung und Herzenshaltung waren Agrusow wichtiger als formelle Qualifikation und theoretisches Wissen. In der Zeit der beginnenden friedlichen Koexistenz – und gerade in einem geteilten Deutschland – fanden sich aber schnell zahlreiche Menschen, die diesem Profil entsprachen und zur Gesellschaft für Menschenrechte hinzustießen. Für die Arbeit der IGFM war Agrusow nicht nur der gegenseitige Respekt in der Mitarbeiterschaft wichtig.

Von größter Bedeutung war für ihn auch der Respekt vor jedem, der sich an die IGFM wandte. Keine Anfrage durfte unbeantwortet bleiben. Jeder, der sich in irgendeiner Form einmal eingebracht oder den Verein finanziell unterstützt hatte, sollte von der Organisation Antwort erhalten. Dazu gehörte beispielweise auch, immer die Förderer genau zu informieren, was mit ihrer Unterstützung geleistet wurde und aufzuzeigen, dass ihre Hilfe wirklich etwas bewirkte. Ein wichtiger Teil des Berufsbilds in der IGFM war nach Agrusow der eines „professionellen Bettlers“ – da war der direkte und aufrichtige Kontakt zu Menschen, die zur ideellen und finanziellen Unterstützung der Arbeit bereit waren, entscheidend wichtig. Lange und gründliche Schulungen für die gemeinsame Arbeit, gab es für die Mitstreiter der ersten Stunde nicht. Alle befanden sich plötzlich inmitten des Geschehens und wurden ins kalte Wasser geworfen. Nun galt „Learning by doing“, um all das gemeinsam auf die Beine zu stellen, was eine echte Bürgerrechtsbewegung eben ausmachte: Demonstrationen, Unterschriftensammlungen und öffentlichkeitswirksame Übergaben der Listen, Informationsstände, Hungersstreiks, Festketten an Zäunen, Erstellung von Berichten, Dokumentationen und sonstigen Publikationen, Organisation von Runden Tischen und anderen Veranstaltungsformaten, Pressekonferenzen, Zusammenarbeit mit anderen Nichtregierungsorganisationen und den zuständigen staatlichen Organisationen, Fundraising, Erstellung und Kategorisierung von Fällen, Fallbetreuung und humanitäre und soziale Unterstützung für Opfer und Angehörige.

Und auch im Verein selbst gab es alle Hände voll zu tun: Arbeitsgruppen wurden gegründet, betreut und weiterentwickelt, Mitglieder wurden geworben, betreut und untereinander vernetzt, Jahreshauptversammlungen wurden vorbereitet und durchgeführt. Agrusow sorgte stets persönlich dafür, dass bei all dem kein wildes Durcheinander entstand. Zwar war er der Chef, doch war er es nicht alleine, der alle Projekte entwickelte und nur zur Ausführung „nach unten“ gab. In der IGFM wurde jeder, der sich in einem der vielen Tätigkeitsfelder einbringen wollte, herzlich willkommen geheißen und warmherzig aufgenommen: Sei es jemand, der Hilfstransporte nach Rumänien schickte oder jemand, der eine Ausstellung über Kinderrechte ins Leben

Iwan Agrusow am Rednerpult während der IGFM-Jahrestagung 2004

rief; jemand, der sich mit Buchhaltung auskannte oder jemand, der wissenschaftlich arbeitete und Dokumentationen erstellte; jemand, der Spezialist für Informations- und Kommunikationstechnologie war oder jemand, der sich auf hoher politischer Bühne auskannte und dort für den Austausch von Meinungen sorgte. Wichtig war stets, dass ein Beitrag zur Erreichung der gemeinsamen Zielsetzung geleistet wurde. War dies der Fall, konnten alle, die sich für die Menschenrechte einbrachten, Teil der IGFM-Familie werden. Mit der Zeit wurde ein umfangreiches Fachwissen in der IGFM aufgebaut und der feste Mitarbeiterkern lernte, wie man erfolgversprechende Projekte entwickelte, budgetierte, finanzierte, durchführte und nachhaltig wirksam machte. Alle damals entstandenen Arbeitsfelder gibt es auch heute noch. Und der Geist ist der gleiche geblieben: Auch heute noch ist  jeder in der IGFM willkommen, der sich für die Menschenrechte einbringen will und bereit ist, Zeit für Opfer von Menschenrechtsverletzungen aufzuwenden, ohne dabei in erster Linie das eigene Einkommen im Blick zu haben.

Die von Agrusow etablierte Kultur der leidenschaftlichen Arbeit für die gemeinsame Sache hatte über seinen Tod hinaus Bestand. Sein Vorbild und seine Prinzipien waren es, die die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte zu dem machten, was sie heute ist. Die besondere Mischung aus Demut und aktiver Zielorientiertheit war eine der interessantesten Persönlichkeitsmerkmale von Iwan Agrusow. Seine Demut war nicht von jener Art, die sich mit dem Schicksal in einem gottgegebenen Universum einfach abfand. Vielmehr hatte er sich sein ganzes Leben lang im positiven Sinne einer gottgegebenen Lebensaufgabe als aktiver und gestaltender Teil des Geschehens in der Welt verstanden. Und je älter er wurde, desto mehr orientierte sich Agrusow an der Bibel und wurde im Alter schließlich zu einem tiefgläubigen Menschen. Es galt für ihn, sich überall dort einzubringen, wo es einem eben möglich war. Schon vor Gründung der IGFM war er von Mahatma Gandhi fasziniert gewesen. Die Art, wie Gandhi sich in aller Demut und mit den wenigen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln für die Unabhängigkeit Indiens einsetzte, war für ihn vorbildlich. Ebenso Mutter Theresa, die ihr Leben den Straßenkindern in Indien verschrieben hatte, oder Nelson Mandela, der ein Leben lang für die Beendigung des Apartheitsregimes in Südafrika kämpfte. Sie alle folgten ihrer inneren Bestimmung.

Agrusows Bestimmung war der Einsatz für die Menschenrechte in seinem Heimatland. Er sah sich als Mittler, den Opfern der Stalindiktatur eine Stimme im Westen zu geben. Agrusow strahlte dieses besondere Charisma aus, das jedoch alleine noch keinen erfolgreichen Menschenrechtsaktivisten ausmacht. Weitere Eigenschaften sind erforderlich, die Iwan Agrusow ebenfalls wie kein Zweiter verkörperte: Er war zielorientiert, intelligent, ideenreich und kreativ. In allem, was er tat, war er äußerst selten Privatperson. Die Arbeit für die Menschenrechte war sein Leben. Einen Arbeitstag, wie ihn unsere Gesellschaft heute kennt, gab es für ihn nie. Er war smart in zweierlei Hinsicht: Nicht nur wörtlich übersetzt war er clever in seinem Denken und Handeln. Er verkörperte auch die Erfolgsprinzipien des modernen Projektmanagements – und das lange bevor dafür die heutigen Begriffe entwickelt worden waren. Stets hatte er ein klares großes Ziel vor Augen und war kreativ in der Definition von Unterzielen. Alles, was er tat, musste zu jeder Zeit spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert – eben „SMART“ – sein. Für seine Arbeit nutzte er die ganze Bandbreite der Aktions- und Kommunikationsmöglichkeiten der Bürgerrechtsbewegung. Immer mit dem Ziel vor Augen, den Stimmen der Opfer im Westen Gehör zu verschaffen und den Opfern hinter dem Eisernen Vorhang zu helfen.

Durch seinen Einsatz gegen das Stalinregime und später für die Menschenrechte, wurde er über viele Jahre hinweg von KGB und Stasi regelrecht gejagt. Kein anderer wie er und die IGFM wurden damals von diesen beiden Geheimdiensten so verfolgt. Ganz gezielt wurden alle möglichen zerstörerischen Gerüchte in die Welt gesetzt und politische Intrigen gesponnen. Es gab mehrere Attentatsversuche auf ihn. Von der damaligen Linken wurden diese Schmutzkampagnen ungeprüft übernommen und Agrusow als Faschist, Antisemit, hochbezahlter CIA- oder Secret-Service- Agent verhetzt. Man mag meinen, dass dies für einen sensiblen Mann wie ihn sehr schmerzlich war. Doch Agrusow ertrug es einfach, er war immer zielorientiert und fokussiert. Er hatte stets genug Arbeit, die er nicht liegen lassen konnte und wollte. In seinem Arbeitsplan gab es keinen Raum, um sich fortlaufend gegen den Wust von Verleumdungen und Angriffen zu wehren und sich zu rechtfertigen. Rückblickend war es überlebenswichtig für den Fortbestand der IGFM, dass sich Agrusow nicht beirren ließ. Für ihn hatte die saubere, ehrliche und sachliche Arbeit immer Priorität und ging immer weiter. Viele der beschwerlichen und herausfordernden Dinge nahm er letztlich mit einer guten Portion Humor. In seinem kleinen kargen Zimmer im Altersheim in Frankfurt-Hausen, wo er seine

Iwan Agrusow gemeinsam mit dem Politologen Prof. Michail Woslenskij

letzten Lebensjahre verbrachte, machte er gerne den Witz, dass er hier noch immer nach den CIA-Millionen suchte, die man ihm immer wieder angedichtet hatte. Viele Menschen haben versucht, sehr viel in die Person Iwan Agrusow und seine Arbeit hineinzuinterpretieren. Das hatte ihn selbst immer sehr verwundert. Denn er war nie der philosophische Vordenker, der große Antikommunist oder der politische Stratege, den Andere meinten, in ihm zu sehen. Er war ein Humanist und ein „Macher“, ein Mann der Tat. Seine Welt war die Welt der praktischen Aktionen, bei denen er sich mit Gleichgesinnten an Zäune kettete oder für russische Dissidenten in den Hungerstreik trat. Hochmütige Menschen, die sich damit rühmen, dass sie sich für die Menschenrechte einsetzen, waren für ihn immer ein Widerspruch. So etwas konnte er nicht ausstehen.

Die Würde des Menschen und ein respektvoller Umgang miteinander, selbst mit Straftätern, waren für ihn von großer Bedeutung. Er war stets um eine sachliche und ehrliche Darstellung von Menschenrechtsverletzungen ohne emotionale Ausbrüche gegen die Straftäter, für deren gerechte Strafe Gerichte zuständig seien, bemüht. Für die damalige große linke Jugendbewegung hatte Agrusow nur zum Teil Verständnis. Er sprach ihren Anhängern nicht ab, dass sie im Grunde etwas Gutes wollten und die Welt mit guten Absichten verändern wollten. Dass Jugendliche mit einem guten Herz das sogar tun sollten, hätte er unterschrieben. Dennoch konnte er nicht verstehen, warum bei diesem Engagement so viel Hetze betrieben und mit so viel Schmutz und Unsachlichkeit gearbeitet wurde. Und das, wo doch die Fakten klar auf der Hand lagen. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass seine Haltung an dieser Stelle stark von dem eigenen Erleben von Verleumdung und Angriffen auf seine Person geprägt war.

Wenn sich Erfolge für die Menschenrechte einstellten, waren das natürlich freudige Momente im Leben von Iwan Agrusow. Aber auch Begegnungen mit Dissidenten aus der Heimat waren für ihn Momente des Glücks. Und besonders beflügelnd war es, als sich mit Perestroika und Glasnost endlich hoffnungsvolle Perspektiven in der alten Heimat auftaten. 1991, als Agrusow 67 Jahre alt war, erschien auf der ersten Seite einer großen russischen Zeitung unter der Überschrift „Willkommen, die Herren Antikommunisten“ eine lange Liste von „KGB-Feinden erster Kategorie“ in alphabetischer Order, verbunden mit der expliziten Einladung, nach Russland zu reisen und dort herzlich willkommen zu sein. Ganz oben stand sein Name. Da hat er geweint. Er zögerte nicht lange und hatte die Gelegenheit umgehend wahrgenommen, nach nunmehr 50 Jahren des Zwangsexils wieder heimatlichen Boden zu betreten. Auch diesen Moment wird er nie vergessen, so Agrusow in seinen Erinnerungen. Gemeinsam mit seiner Frau Franziska unternahm er zwei Reisen entlang der Wolga und besuchte noch einige Male seinen Heimatort Petschory an der estnischen Grenze. Hier konnte er sogar den Sohn seines älteren Bruders Ilja noch kennenlernen. Mit leuchtenden Augen berichtete er von diesen besonderen Erlebnissen.

Obwohl er zeitlebens Russland innig verbunden war, konnte er sich der Anerkennung der Fakten – zusammengetragen von der ebenfalls unvergesslichen IGFM-Mitarbeiterin Wanda Wahnsiedler – über die ersten neuen russischen Völkerrechts- und Kriegsverbrechen nach 1991, nicht verwehren. Und so wurde die IGFM mit Wanda Wahnsiedler zum großen und international beachteten Berichterstatter der Menschenrechtsverletzungen in den beiden Tschetschenienkriegen. Trotz aller schrecklicher Geschehnisse hielt Agrusow die grundsätzlich positive Entwicklung in seinem Heimatland noch lange Zeit für unumkehrbar. Eine demokratische Zukunft sei allerdings nur auf Basis einer breit angelegten und gründlich durchgeführten Aufklärung und Bewältigung der stalinistischen Vergangenheit möglich. Den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, fast genau zehn Jahre nach seinem Tod, hätte er vor diesem Hintergrund emotional nicht verkraftet. Persönlich erlebte er noch die Gründungen der russischen und der ukrainischen Sektionen der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Er nahm an deren Gründungsversammlungen teil, war Zeuge von weiteren Sektions- und Arbeitsgruppengründungen in allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion und war außerordentlich glücklich darüber.

Die IGFM-Familie im Osten in den internationalen Verbund zur Förderung der Menschenrechte einladen zu können, war eine große, späte Freude für ihn. Dennoch hätte er im Traum nie daran gedacht, sich zur Ruhe zu setzen. Die Arbeit ging ihm nie aus. Selbst als er in hohem Alter nicht mehr ins Büro kommen konnte, entwickelte er gemeinsam mit der russisch-orthodoxen Kirche in Frankfurt noch Projekte, um Tuberkulosekranken in russischen Haftanstalten zu helfen. Trotz all seiner Geschäftigkeit hatte Agrusow zeitlebens seine Frau Franziska und seine Familie sehr geliebt. Der relativ frühe Tod seiner Frau war ein schwerer Schlag für ihn, von dem er sich nie wirklich erholte. Am Ende seines Lebens bereute er nur eines: Seiner Familie nicht die Zeit gegeben zu haben, die sie verdiente. Ihm tat es sehr weh, dass er deshalb zu seinen beiden Söhnen und deren Familien im späteren Leben kein intaktes Verhältnis mehr hatte. Seine Erkenntnis im Alter: Die Familie dürfe man nicht vernachlässigen. Sie sei das Wichtigste, das im Leben bliebe.

Agrusows Bestimmung war der Einsatz für die Menschenrechte in seinem Heimatland. Er sah sich als Mittler, den Opfern der Stalindiktatur eine Stimme im Westen zu geben.

Iwan Agrusow war nicht der Mensch, der sich aktiv auf die Suche nach Freiwilligen und Mitarbeitern gemacht hätte, um diese für die Menschenrechtsarbeit anzuwerben. Dafür hatte er keine Zeit und das sah er auch nicht als seine Aufgabe. Er musste es auch nicht, denn es gab immer Menschen, die etwas für die Menschenrechte tun wollten, die auf eigene Initiative zu ihm kamen. Es war sein Charisma, das die Menschen anzog und faszinierte. Er vermittelte stets eine wohltuende Sicherheit, dass das, was man tun wollte, um zu helfen, richtig war.

Wo nötig, gab er Hilfestellung und praktische Anweisungen. Er tat all das, was man heutzutage als gutes Projektmanagement bezeichnen würde. Dabei achtete er immer auch aufs Detail, sei es bei der richtigen Wortwahl in Schreiben an die deutschen Spender (und das obwohl Deutsch nicht seine Muttersprache war), sei es bei der Zusammenstellung von Dokumentationen für die KSZE oder die UN. Er liebte, lebte und atmete das Engagement für die Menschenrechte in all seinen vielfältigen Formen. So musste zwar eine gewisse Eigenmotivation und Eigeninitiative vorausgehen, um Iwan Agrusow kennenzulernen. Aber war man einmal in seiner Nähe, so beeindruckte er die Menschen, inspirierte und prägte sie maßgeblich zum Positiven.

Text: Carmen Krusch-Grün und Matthias Böhning

Weitere Bilder aus dem Leben von Iwan Agrusow

In dankbarer Erinnerung.

Der Vorstand der IGFM

Frankfurt am Main, 2. Oktober 2024

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