IGFM-Tagung

Am 14. und 15. Oktober 2023 fand die Tagung „Aufstände gegen Diktaturen“ im Amadeus Hotel in Frankfurt am Main statt. Im Vordergrund stand die Erinnerung an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und Ost-Berlin. Wir danken der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur für die finanzielle Förderung dieser Veranstaltung. Auf dieser Seite finden Sie einige Eindrücke der Veranstaltung in Ton und Bild.

Aufstände gegen Diktaturen

Warum sollten wir uns heute noch mit dem 17. Juni 1953 beschäftigen? Hätte der Aufstand vielleicht schon vier Jahre nach Staatsgründung der DDR zu ihrem Ende geführt? Dies sind einige der Fragen, die während der IGFM- Tagung „Aufstände gegen Diktaturen“ am 14. und 15. Oktober 2023 aufgegriffen wurden.

In seinem Grußwort sprach Norbert Altenkamp, Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im deutschen Bundestag, über die erkämpften Freiheiten, die nicht selbstverständlich seien. Mit dem Blick auf die deutsche Geschichte sei nichts selbstverständlich, alles müsse in jeder Generation neu erarbeitet, erkämpft und erhalten werden, so Altenkamp (CDU). Anschließend schaltete sich Referentin Dr. Susanne Schröter, Professorin für Anthropologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen an der Goethe Universität, online zu. Krankheitsbedingt konnte sie leider nicht in persona dabei sein, dank Technik und etwas Improvisation konnte sie ihren Vortrag „Widerstand gegen Diktaturen in der islamischen Welt“ aber über den digitalen Weg  halten.

Anhand drei Beispielen aus islamisch geprägten Ländern, Iran, Tunesien und Indonesien, referierte sie über die Entstehung von Diktaturen und menschenrechtsfeindlichen Regimen. Darin verwies sie auch auf die demokratischen Entwicklungen in den genannten Ländern, die leider immer wieder einen Rückgang erlebten – auch aufgrund der dort zunehmenden Politisierung des Islams.

Prof. Dr. Susanne Schröter, seit 2008 Professorin für Anthropologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main

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Vortrag Prof. Dr. Susanne Schröter

Nach einer kleinen Pause ließ Ray Wong, Demokratie-Aktivist und Student der Politikwissenschaften in Göttingen, die Zuhörer an seiner eigenen Geschichte teilhaben. Er gründete nach den Protesten von 2014, die als „Regenschirmrevolution“ bekannt sind, im Jahr 2015 die Organisation „Hong Kong Indigenous“. Wong und andere chinesische Aktivisten setzten sich für ein Selbstbestimmungsrecht Hong Kongs ein. Aus diesem Grund wurde er vom Pro-Peking-Lager als Separatist angesehen und verfolgt. Im Jahr 2018 verließ er nach mehreren Verhaftungen aufgrund seines politischen Engagements seine Heimat und erhielt in Deutschland politisches Asyl. 2022 gründete der 30-jährige den Verein „Freiheit für Hongkong e.V.“.

Er und andere Aktivisten fürchten, Hongkong würde sich durch den zunehmenden Einfluss Chinas nicht nur in eine Scheindemokratie verwandeln sondern sich nach und nach dem Überwachungsstaat China anpassen. Die junge Bevölkerung Hongkongs demonstrierte daher ihren Widerstand und ihre Skepsis gegenüber dem Eingliederungskonzept „Ein Land, zwei Systeme“, begleitet durch massive Proteste in den Straßen Hong Kongs. Das zuvor zum Großteil autonom regierte Gebiet Hong Kong solle ihren Forderungen nach weiterhin demokratischen Werten folgen und frei vom Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas sein.

Ray Wong, Demokratie-Aktivist und Student der Politikwissenschaften in Göttingen

Ray Wong und Valerio Krüger

Ray Wong und Valerio Krüger, Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der IGFM

Am nächsten Tag widmete sich der frühere Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Dr. Hubertus Knabe, in seinem Vortrag dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und in Ost-Berlin. Aktuell ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für neueste Geschichte der Universität Würzburg. Laut Knabe droht dieses für Deutschland so wichtige Ereignis in Vergessenheit zu geraten, denn wenige Deutsche wüssten, was am 17. Juni 1953 geschah. Dies sei verwunderlich, denn andere Länder wie z.B. Ungarn handhabten die Erinnerungskultur gänzlich anders. Der 17. Juni 1953 sei ein Tag gewesen, an dem sich die Energie eines Aufstandes manifestiert habe, so Knabe. Zu dem Zeitpunkt sei seit langem ein Machtverlust der SED spürbar gewesen, was durch die Besetzung von staatlichen Gebäuden und sogar Gefängnissen unterstrichen wurde.

Knabe ging im ersten Teil der Frage nach, woher denn diese Energie für einen solchen Aufstand gekommen sei. So zählte in dem staatlichen Provisorium DDR die Enteignung der Großindustrie und die Verhaftung demokratischer Politiker zu den Säulen des Staatsaufbaus und der regierenden Kaste. Damit sei die Diktatur schrittweise etabliert und der planmäßige Aufbau des Sozialismus fortgesetzt worden, so der Historiker. Am 17. Juni 1953 schlossen sich etliche Bürger in der gesamten damaligen DDR aus Solidarität den Bauarbeitern an, die sich bereits einen Tag zuvor zu einem Demonstrations-Trupp formiert hatten. Zusammen forderten sie die Senkung von Arbeitsnormen, die Freilassung politischer Häftlinge, den Rücktritt des SED-Regimes und freie Wahlen.

Dr. Hubertus Knabe, früherer Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für neueste Geschichte der Universität Würzburg

Im seinem Buch „17. Juni 1953 – Ein deutscher Aufstand“ analysiert Historiker Hubertus Knabe die Ursachen und schildert das landesweite Aufbegehren der Bevölkerung sowie die brutale Niederschlagung des Aufstands.

Videobericht der Tagung

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Ein kurzweiliges Video über die IGFM-Tagung im Oktober 2023.

Zusammenfassung der einzelnen Vorträge

Vortrag von Prof. Dr. Susanne Schröter

Leiterin Forschungszentrum „Globaler Islam“ an der Universität Frankfurt/M.

bei der IGFM-Herbsttagung 2023 in Frankfurt

zum Thema „Widerstand gegen Diktaturen in der islamischen Welt“

Widerstand gegen Diktaturen ist eine sehr schwierige Sache. Statt Demokratie entsteht vielfach erneut eine Diktatur und kein menschenrechtsorientiertes Regime. Anhand von drei Beispielen islamischer Länder wird dies deutlich:

IRAN

Im Iran hatte sich eine korrupte Monarchie entwickelt, die das Volk ausplünderte und die nationalen Ressourcen an ausländische Regierungen verkaufte. Bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden Protestbewegungen verbunden mit vereinzelten Aufständen. Eine Koalition unterschiedlicher Akteure kennzeichnete diese Phase der iranischen Geschichte. Oberschicht wie Handwerker-Kaste waren sich einig im gemeinsamen Ziel, der Ablösung der Monarchie durch ein parlamentarisches System mit einer modernen Rechtsordnung.

Darin glich der Iran den zeitgleich stattfindenden Demokratisierungen in Europa, nicht zuletzt gab es relativ viele Kontakte zwischen Orient und Okzident in dieser Phase. Globalisierung ist somit nicht erst eine Erscheinung des 21. Jahrhunderts, sondern ist bereits vor 150 Jahren aufzeigbar.

Zu den Forderungen im Iran gehörte damals neben der Einführung von Bildung für die allgemeine Bevölkerung auch dezidiert die Mädchenbildung. Im Familienrecht sollten Frauen den Männern gleichgestellt werden. Nach Einrichtung der konstitutionellen Monarchie im Iran gelangte Reza Chan Pahlavi, der ein Mann des Volkes und ein Kosakenoffizier war, an die Macht. Er ließ sich zum Schah krönen und trug in sich die Idee einer Moderne, wenn auch nicht ein demokratisches System in unserem Sinne. Der neue autoritäre Herrscher beschränkte die Zuständigkeit der Scharia-Gerichte, führte die allgemeine Schulpflicht ein, was die Einrichtung von Mädchenschulen mit beinhaltete, und machte sich verdient um die Gründung der Teheraner Universität. Um die Aufrichtung eines Gesundheitssystems kümmerte er sich genauso wie um den Aufbau von Schienenverbindungen im Iran. Unter seiner Herrschaft wurde den Frauen auch der Zugang zur Universität ermöglicht.

Somit ist der Iran ein Beispiel dafür, dass in orientalischen Gesellschaften die Frauenrechte teilweise sehr viel früher umgesetzt worden sind als in weltlichen Gesellschaften. In puncto Familienrecht wurde der Orientierungsrahmen der Scharia verlassen, was auf Widerstand der religiösen Eliten stieß. Reza Schah Pahlavi brach mit den Traditionen bezüglich der damals für muslimische Gesellschaften üblichen Verhüllungsvorschriften der weiblichen Köpfe und Körper, was zu Auseinandersetzungen über die Entschleierung führte. Für Teile der Eliten wie für manche aus der Bevölkerung war das ein klarer Fall von Häresie oder Beleidigung des Islam. Der Schah setzte zur Durchsetzung ziemlich brachiale Mittel ein. Die Entschleierung Anfang des 20.Jahrhunderts wurde zeitweise mit polizeilicher Gewalt durchgesetzt, umgekehrt wurden bereits entschleierte Frauen auf der Straße angegriffen.

Nach der zwangsweisen Abdankung des Schahs kam noch im 2. Weltkrieg sein Sohn Mohammed Reza Pahlavi an die Macht. Dieser blieb zunächst in den Spuren seines Vaters, suchte aber zugleich den Anschluss an die Geistlichkeit. Sein Motiv war der Kampf gegen kommunistische Umsturzbewegungen. Diese führten Mitte des 20. Jahrhunderts die Opposition gegen die Monarchie an. Der neue Schah holte also beispielsweise den Großajatollah Schariatmadari nach Teheran und löste damit einen Volksauflauf Hunderttausender aus.

Trotz autoritärer Herrschaft kamen die Fortschritte für die Frauen voran, u.a. wurde das Heiratsalter auf 18 Jahre angehoben.

Angesichts der brutalen Herrschaft formte sich in den 70er Jahren eine starke Opposition, die sich aus städtisch-intellektuellen Kreisen rekrutierte. Sie schloss sowohl demokratische als auch religiöse Aktivisten ein. Es gelang dieser weit gespannten Bewegung 1979 den Schah, der sich besonders auf die USA und Großbritannien gestützt hatte, zu stürzen.

Zeitgleich mit dem Gang des bisherigen Machthabers ins amerikanische Exil kehrte Ajatollah Khomeini aus Paris in sein Heimatland zurück. Khomeini war gelungen, die breite Oppositionsbewegung zu instrumentalisieren und wandelte sie um in eine islamische Revolution, gestützt auf die religiöse Elite, die unter dem Schah stark unterdrückt war. Das gemeinsame Ziel war eine islamische Gesellschaft. Und das setzten sie durch die Gründung der Islamischen Republik Iran am 1. April 1979 um.

In der Folge wurden Frauen aus vielen Berufen vertrieben, mussten erneut den Körper mit dem Schador komplett verhüllen, damit weder von den Haaren noch vom Körper der Frauen irgendetwas zu sehen ist, um zu verhindern, dass die Männer sich verführt fühlen. Das Ansinnen richtete sich dabei auf die angebliche Gefährdung der Familie und damit letztendlich des Staates.

Zur Durchsetzung ließ man bewaffnete Milizen in den Straßen patrouillieren. Es kam zu Entlassungen von Frauen und Drohungen gegenüber Händlern, die die bisherige Praxis duldeten. Ein Monat nach Ausrufung des neuen Staates wurde die gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen eingestellt. Verheirateten Frauen gestattete man nicht mehr den Besuch einer höheren Schule, geschweige denn den einer Universität. Kindertagesstätten galten fortan als Höhlen der Korruption.

Im Familienrecht wurde das Heiratsalter auf neun Jahre gesenkt, da ja schon Mohammed seine Lieblingsfrau Aischa geheiratet hatte, als sie in diesem Alter war. Wenn Frauen schon früh verheiratet werden „kommen sie auch nicht auf dumme Gedanken“, stand hinter dieser Scharia-basierten Ordnung. Außer den Frauen trafen die neuen Regeln auch Minderheiten aller Art und solche Menschen, die in irgendeiner Weise oppositionell waren.

Die von den Revolutionären zunächst abgelehnte Folter wurde beibehalten in noch viel schlimmeren Ausmaß. Zusätzlich verschärfte sich die Situation durch den Einsatz bewaffneter Milizen, als erstes zu nennen sind hier die Revolutionsgarden, die in vielen Ländern auf der Terrorliste stehen, außer in Deutschland. Sie sind schwer bewaffnet und haben komplette Kontrolle über die Wirtschaft. Hinzu kommen die sogenannten Basidsch-Milizen. Ihre Entstehung erklärt sich aus dem schon frühen Auftreten oppositioneller Gruppen, auch wenn viele Dissidenten ins Ausland auswichen.

Bei Wahlen im Iran werden die Kandidaten vorher von den religiösen Akteuren ausgewählt, bevor sie überhaupt kandidieren dürfen. Kommt es zu einem Ergebnis wie 2009, wo die Zeichen auf demokratische Öffnung standen, kann ein Wahlergebnis auch einmal nicht anerkannt werden. In diesem Fall hatten sich viele Frauen beteiligt – in der Folge fielen viele von ihnen dem Terror der Milizen zum Opfer. Im Grunde hat das Regime „komplett den Rückhalt“ in der Bevölkerung verloren. Das zeigt sich auch an der Leere der Moscheen im Iran.

Im Jahr 2018 kam es zu einer Massenbewegung der Frauen, die demonstrativ den Schleier abgezogen haben, mit der Konsequenz, dass viele schwer dafür büßen mussten. Nicht allein ist eine Unzufriedenheit mit dem Regime zu spüren, sie betrifft auch die Religion selbst. Es ist nicht so, dass sie der Meinung sind, das habe nichts mit Religion zu tun, wie man hier immer erzählt. Viele Menschen, das zeigt die Entwicklung in der Gegenwart, wünschen sich alles, nur nicht diese Form von Islam.

Auf dem Hintergrund des aktuellen Schocks angesichts der Brutalität der Hamas bei ihrem Überfall auf Israel Anfang Oktober, ist wichtig zu wissen: Khomeini hat bereits kurz nach der Machtübernahme die Beziehung zu Israel gekappt. Er hat als Staatsdoktrin festgesetzt, dass Israel zerstört und Jerusalem erobert werden muss. Darin zeigt sich der Anspruch des Iran, für alle Muslime zu sprechen, auch für die Sunniten.

Ebenso verhält es sich mit der iranischen Unterstützung beim Aufbau der Hisbollah im Libanon und der Etablierung eines Al-Quds-Tages. Dieser nach dem arabischen Namen für Jerusalem benannten Tag mit seinen Aufmärschen verweist darauf, dass die Eroberung Jerusalems durch Muslime anzustreben sei, gleiches gilt für die Vertreibung der Juden. In dieser Logik gilt dann auch: Antisemitismus und Islamismus hängen ganz essentiell zusammen. Islamismus ist immer antisemitisch.

Tunesien

Vergleichbar mit der des Iran ist die Entwicklung im nordafrikanischen Tunesien verlaufen. Auch dort wurden schon früh reformorientierte Intellektuelle aktiv, in diesem Fall gegen das französische Kolonialregime. Am Anfang stehen dort die Bemühungen von Taher Haddad, der eine Reinterpretation der islamischen Quellen forderte, dass sie kompatibel sind mit einer Moderne, die menschenrechtsorientiert ist, ohne allerdings sich explizit auf niedergelegte Menschenrechte zu beziehen. Der Einstieg erfolgte wie im Iran beim Familienrecht und der Mädchenbildung. Infolgedessen musste Haddad heftigen Gegenwind in Kauf nehmen, ist als Häretiker denunziert worden und hat seine Lehrbefugnis verloren.

Auch nach Haddads Tod Mitte der 1930er Jahre blieb das Reformprogramm lebendig in den Köpfen vieler Intellektueller. Bei der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1957 griff der neue Staatspräsident Habib Bourguiba Gedanken Haddads wieder auf. Ähnlich wie zuvor in der Türkei und im Iran, islamischen Ländern also, wurde nun in Tunesien versucht, einen modernen Staat aufzubauen.

Bourguiba, verheiratet mit einer Französin, brachte sich dabei ein als Absolvent der Politikwissenschaft an der Sorbonne. Er orientierte sich am Laizismus, begrenzte den Einfluss der religiösen Akteure und hob religiöse Stiftungen, die erheblichen Einfluss besaßen, auf.

Nach Abschaffung der Scharia-Gerichte wurde ein säkulares Justizsystem etabliert und das gesamte Bildungssystem säkularisiert. Bourguiba unterstützte die Emanzipationsbewegung der Frauen, indem er ein fortschrittliches Personenstandsrecht schuf, so dass Frauen selbständig reisen und eigene Bankkonten eröffnen konnten. Gemessen an den Verhältnissen hierzulande kurz nach dem Krieg ist dies recht progressiv zu nennen. Tunesien führte auch die Zivilehe ein und schaffte die Mehrehe ab. Das tunesische Modernisierungsprogramm kann als Emanzipation von oben gelten, auf den Weg gebracht von einer autoritären Regierung. Wenig demokratische Elemente wies Tunesien damals auf.

In denselben Gleisen setzte Zine el-Abidine Ben Ali, Bourguibas Nachfolger ab 1987, die Arbeit fort. Aufgrund schlechter Wirtschaftsbedingungen war seine Regierung weit weniger beliebt. Dies nutzten die religiösen Eliten auf politischer Ebene. Ihr Instrument war die Ennahda, eine an der ägyptischen Muslimbruderschaft orientierten Bewegung. Wie bei deren Gründung 1928 in Ägypten war auch hier das Ziel, das Land vor einer Säkularisierung zu bewahren mit einem Scharia-orientierten, fundamentalistischen, frauenfeindlichen und auch antisemitischen Programm. Rached al-Ghannouchi, der Vorsitzende der Ennahda, hat sich als Antisemit eingesetzt für palästinensische Terroristen, beides Kennzeichen vieler antimodernen islamistischen Bewegung. Ghannouchis Ziel war, die patriarchalische Geschlechterordnung zu konservieren.

In Tunesien startete 2010 jene arabische Revolution, die man den Arabischen Frühling nennt. Auslöser war der wirtschaftliche Niedergang und der Polizeiterror dort. Die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi war Auslöser für eine Welle der Auflehnung gegen jede Art von Diktatur in der arabischen Welt. Westliche Erwartungen, dass es in der Folge zu einer Demokratisierung in diesen Ländern komme, wurden enttäuscht, da bei freien Wahlen überall Islamisten an die Macht kamen. In Tunesien trug die Ennahda den Sieg davon, gefolgt von Übergriffen auf säkulare Institutionen und unverschleierte Frauen.

Den Koran als Grundlage der Verfassung konnte man aber nicht durchsetzen, weil es eine breite säkulare Bewegung – bis heute – verhindert hat. Doch Tunesien hat auch etliche militante Anhänger des Islamischen Staates (IS) hervorgebracht. Gegenwärtig ist die Ennahda weitgehend entmachtet, der aktuelle Präsident Kais Saied knüpft erneut an am Prinzip des säkularen Autoritarismus. Trotz starker Zivilgesellschaft gelang es auch in Tunesien nicht der Demokratisierung den Weg zu bereiten.

Indonesien

Als weltweit fortschrittliches Land, was die Synthese aus Islam und Demokratie angeht, gilt häufig fälschlicherweise Indonesien. Dort spielten muslimische Organisationen nach den antikolonialen Kämpfen gegen Niederländer eine besondere Rolle, mit dem Ziel, Indonesien zu einem islamischen Staat zu machen. Nach der Unabhängigkeit regierte Präsident Sukarno die gelenkte Demokratie Indonesien diktatorisch. Sukarno propagierte den „multikulturellen und multireligiösen Staat“, bis in die Präambel der Verfassung hinein.

Es entbrannte jedoch ein 1 ½ Jahrzehnte währender Bürgerkrieg zwischen islamischen und nationalen Milizionären. Am Ende wurde in Indonesien der politische Islam verboten. Suhartos autoritärer Kurs richtete sich gegen kommunistische Akteure, die 1965/66 an einem bis heute ungeklärten Putschversuch beteiligt waren. Dessen Folge waren antikommunistische Massaker, denen eine halbe Million Menschen zum Opfer fiel.

Ein weiteres Resultat war die Machtübernahme durch General Suharto, der beim Ziel den politischen Islam zu verbieten im Kurs seines Vorgängers blieb. Auf die Dauer ermangelte es Suharto am Rückhalt in der Armee. Auch dort hatten sich islamische Parolen zu entfalten begonnen. Suhartos Versuch, Frieden mit dem Islam zu schließen führte dazu, dass als Konzession die Verschleierung erlaubt wurde und ein islamisches Geldinstitut sich gründen konnte. Auch Suhartos Wallfahrt nach Mekka konnte seine Sympathiewerte nicht steigern. Er wurde 1998 von einer breiten Demokratiebewegung gestürzt.

Daraufhin konnten die islamistischen Akteure aus dem Untergrund auftauchen mit öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen. So wurde z.B. ein Antipornografie-Gesetz gefordert, wonach Frauen verboten wird, Kleidung zu tragen, die auf Männer sexuell erregend wirkt, also alles außer Ganzkörperverschleierung. Wegen der starken indonesischen Demokratiebewegung kam es bislang nicht zur Machtübernahme der Islamisten. Staatliche Stellen werden jedoch zunehmend infiltriert. Im Bundesstaat Ace konnte die Scharia flächendeckend eingeführt werden, dort kommt es zu öffentlichen Auspeitschungen, ist die Vollverschleierung Pflicht und Frauen dürfen am Abend nicht aus dem Haus ohne Begleitung ihrer Männer.

Durch den Sieg von islamistischen Parteien droht sich Indonesien durch zu schließende Kompromisse zu verändern, immer islamistischer zu werden. Es gilt allgemein der Grundsatz, jeder müsse eine Religion haben. Auch ist der Säkularismus verboten. Zur Liste der erlaubten Religionen gehört das Judentum in Indonesien nicht. Die Kuratorengruppe Ruan Grupa, die auf der Kunstaustellung Documenta 2022 einen antisemitischen Skandal auslöste, kam aus Indonesien. Aus Kreisen der Südostasien-Wissenschaft kam zur Verteidigung, sie hätten das als antikoloniale Geschichte gemeint.

Aktuell machen zwei der ehemaligen Documenta-Kuratoren – inzwischen als Kunstprofessoren in Norddeutschland – wieder von sich reden, weil sie pro-Hamas-Äußerungen im Internet befürwortet haben. Das übergreifende Dilemma im islamischen Kontext besteht darin, dass Widerstand gegen säkulare Diktaturen häufig islamischen Diktaturen den Weg bereitet. In deren Klima gedeiht sowohl Antisemitismus als auch unverblümter Israel-Hass. Auch in Indonesien ist Hitlers „Mein Kampf“ in Übersetzung erschienen. Als deutscher Staatsbürger erfährt man dort eine besondere Wertschätzung, weil sie Deutsche mit dem Nationalsozialismus in Verbindung bringen.

Ray Wong

Demokratieaktivist aus Hongkong

bei der IGFM-Herbsttagung 2023 in Frankfurt

Ray Wong, der dreißigjährige heutige Student der Politikwissenschaften in Göttingen, war bis 2017 aktiv in der Demokratiebewegung Hongkongs. Er gründete nach den Protesten von 2014, die als „Regenschirmrevolution“ bekannt sind, die Organisation „Hong Kong Indigenous“ im Jahr 2015. Wong setzt sich für das Selbstbestimmungsrecht Hongkongs ein und wird vom Pro-Peking-Lager als Separatist angesehen. Im Jahr 2018 verließ er seine Heimat und erhielt in Deutschland politisches Asyl. Im letzten Jahr gründete er den Verein „Freiheit für Hongkong e.V.“

Vortrag von Ray Wong

Basis für die Demokratiebewegung ist zum einen, dass Hongkong im Jahr 1997 von Großbritannien an China zurückgegeben wurde. Dies beinhaltet eine Vereinbarung, wonach über 50 Jahre innere Autonomie garantiert wird bis der endgültige Übergang im Jahr 2047 erfolgt. Die Aktivisten befürchten einen schleichenden Ausverkauf der demokratischen Errungenschaften durch den stetig wachsenden Einfluss Chinas.

Ein zweites ist die einschneidende Erfahrung des Jahres 1989 mit dem Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking. Dort kamen nach dem Tod des Reformers Hu Yaobangs ab April 100.000 meist studentische Demonstranten zusammen und setzten sich für eine Demokratisierung des kommunistischen Staates ein. Ihre Zusammenkunft galt vielen als Insel der Meinungsfreiheit. Trotz mangelnder Organisation und Unterschiedlichkeit bei den Zielen forderten sie gemeinsam mehr Rechenschaft der Partei- und Staatsführung, Demokratie, Presse- und Redefreiheit. Auf dem Höhepunkt der Proteste versammelten sich etwa eine Million Menschen auf dem Platz. U.a. ausgelöst durch einen Hungerstreik breitete sich die Bewegung in über 400 Städten aus.

Das politische Einparteiensystem stand vor einer Herausforderung seiner Legitimität. Am 2. Juni beschloss das Politbüro der KPCh, den Platz mit militärischer Gewalt zu räumen. Nach wochenlangen erfolglosen Versuchen, um eine friedliche Lösung zwischen den Demonstranten und der chinesischen Regierung zu finden, verhängte die chinesische Regierung in der Nacht des 3. Juni das Kriegsrecht und entsandte Truppen. Schätzungen zufolge schwankt die Zahl der Todesopfer zwischen mehreren Hundert und mehreren Tausend.

Das Jahr 1989 hatte immer einen großen Einfluss auf die Hongkonger. Hongkong war einer der wenigen Orte, wo an das Massaker regelmäßig ungehindert erinnert werden konnte. Die vormalige britische Kolonie beobachtete, wie auf dem chinesischen Festland 1998 der Versuch unternommen wurde, eine Demokratische Partei Chinas zu registrieren. Sie geht zurück auf eine Versammlung von Demokratieaktivisten und ehemaligen Studentenführern der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Beim Versuch, die Partei offiziell zu registrieren war Wang Youcai, einer der Hauptaktivisten von 1989, mit beteiligt. Die Registrierung wurde abgelehnt und Wang am nächsten Tag von der Staatspolizei festgenommen wegen Widerstandes gegen die Regierung.

Sinnbild des Umgangs der KP mit den Dissidenten wurde auch der spätere Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, ebenfalls Demonstrant von 1989. Er wurde in der Folge immer wieder für mehrere Jahre inhaftiert, bevor er 2017 in der Haft verstarb.

Ein weiterer Aspekt ist die nach 1989 aufgekommene flächendeckende Überwachung der Chinesen durch Staat und Partei. Damit wollte man eine erneute Massenbewegung verhindern. Auch bei uns bekannte IT-Firmen wie Huawei stehen als Dienstleister der Überwachung zur Verfügung.

In Hongkong kam es zu Protesten, nachdem die Skepsis an dem Eingliederungs-Konzept „Ein Land, zwei Systeme“ zunahm. Bei den Wahlen im Mai 1998 zur neuen Legislaturperiode wurden nur 20 Sitze direkt gewählt, während der Rest durch ein mehrstufiges Auswahlverfahren bestimmt wurde. Dies sorgte für eine maximale Vertretung durch Pro-Establishment-Parteien auf Kosten der anderen. Mittlerweile entsteht der Eindruck, dass sich Hongkong auf dem Weg befindet hin zu einer „Schein-Demokratie“. Die angebotene Wahlmöglichkeit erschöpft sich in der Alternative „Dreck mit Curry-Geschmack oder Curry mit Dreck-Geschmack“.

Gemäß Artikel 18 der Verfassung gelten in Hongkong keine nationalen Sicherheitsgesetze des Festlandes. Massiver Protest brandete 2003 auf gegen einen Vorschlag zur Umsetzung von Artikel 23 der Hongkonger Verfassung – und zog eine halbe Million Demonstranten an. In diesem Artikel geht es um Maßnahmen gegen den Versuch, die staatliche Integrität in Frage zu stellen, wozu auch schon politische Betätigung gehört.

Das Gesetz wurde zurückgezogen, weil pro-Pekinger Politiker erkannten, dass sie durch ihre Unterstützung ihre Mehrheit bei den Parlamentswahlen verlieren könnten. So versucht die Staatsführung in Peking andere Wege, um ihren Einfluss in Hongkong durchzusetzen. Der Nationale Volkskongress Chinas erließ am 30. Juni 2020 in Hongkong ein nationales Sicherheitsgesetz mit ähnlichem Wortlaut. Bereits im Jahr 2019 hatten sich die Proteste erneut verstärkt.

Probleme wirft auch die Frage auf, ob in Zukunft unliebsame Personen aus Hongkong nach Festland-China ausgeliefert werden. Ein Täter flüchtete 2018 nach einem Mord nach Taiwan. Da Hongkong mit Taiwan kein Auslieferungsabkommen hat, konnte er nicht strafrechtlich verfolgt werden. Deswegen führte die Regierung Hongkongs 2019 ein Gesetz über gegenseitige Rechtshilfe bei Strafsachen ein, das „Auslieferungsgesetz“. Es sieht eine Überstellung von Flüchtlingen in Gebiete vor, wo formelle Auslieferungsverträge fehlen, auch nach Taiwan und Festlandchina. Starker Widerstand der Bevölkerung Hongkongs stoppte bisher die Umsetzung des Gesetzes.

Demonstrationen, zu Anfang friedlich, entwickelten sich aufgrund des Einsatzes von Gewalt durch die Polizei gegen Demonstranten über den friedlichen Protest hinaus. In der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, dass die Regierung nicht bereit ist, den Demonstranten zuzuhören. Außer der Beteiligung an Protesten wächst auch die Zahl derer, die Hongkong den Rücken kehren. An vorderster Front stehen in beiden Fällen die Jüngeren, denn sie hätten beim schleichenden Verfall der demokratischen Rechte am meisten zu verlieren. Viele erhielten ihre politische Prägung bei den Mahnwachen für das Massaker von 1989.

Die Hongkonger fürchten zunehmend um die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in der chinesischen Sonderverwaltungszone. Viele befürchten, Chinas politische Führung plane, diese Rechte auf Dauer zu beschneiden. Bisher gilt in Hongkong die juristische Tradition des Commonwealth mit öffentlichen Gerichtsverhandlungen mit Geschworenen, nur wie lange noch? Neue Straftaten können definiert werden: Aufruhr, unrechtmäßige Versammlung. Die Praxis der Gesetzgebung lässt den Schluss zu, es wird bewusst offengehalten, was erlaubt ist und was nicht, was zu Freiräumen für polizeiliche Willkür führt. 2021 stürmten Polizisten die Redaktionsräume der pro-demokratischen Tageszeitung Apple Daily. Es gibt aktuell nur noch wenige solcher Medien in Hongkong.

Im Zusammenhang mit Vorwahlen zum Legislativrat kam es 2020 und 2021 zu Massenverhaftungen. Die Regierung sieht darin staatsgefährdende Subversion und Verstoß gegen das Sicherheitsgesetz. Es wurden 47 Demokratieaktivisten angeklagt. Es gab keine Kommunikation mit den Gefangenen. Ein Prozess fand erst im Jahr 2023 statt. Poltische Gefangene gibt es in Hongkong im vierstelligen Bereich, darunter ca. 50 Medienvertreter.

Dieses Jahr bringt außerdem die anstehenden Wahlen zum Nationalrat im November und den Prozess gegen den Demokratieaktivisten Jimmy Lai, inzwischen 76 Jahre alt. Eine Welle von Visa-Anträgen zur Ausreise nach Großbritannien oder Kanada breitet sich aus. China ist bestrebt, Hongkongs kulturelle Eigenheiten durch verstärkten Gebrauch von Mandarin anstelle von Kantonesisch in Schulen einzuebnen. Gleichwohl gibt es noch einige Unterschiede. So können die Hongkonger noch ein freies Internet nutzen. Aber auch das ist in Gefahr. Die Tendenz der flächendeckenden Überwachung hält auch in der Sonderverwaltungszone Einzug unter dem Namen „Smart City“.

Dr. Hubertus Knabe

ehem. Direktor der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg

 spricht bei der IGFM-Herbsttagung 2023 in Frankfurt

zum Thema „Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR und in Ost-Berlin“

Dieses wichtige Datum droht in Vergessenheit zu geraten. Es gibt Anzeichen, dass mit dem 70. Jahrestag das offizielle Gedenken endet. Die Gedenkrituale der Verfassungsorgane lassen den Schluss zu, dass die Erinnerung an den Volksaufstand nicht gepflegt wird. Das wird im Ausland – z.B. in Ungarn – ganz anders gehandhabt. In der deutschen Erinnerungskultur spielt oft eine Schwarz-Weiß-Fotografie vom Potsdamer Platz eine gewisse Rolle, die den Eindruck entstehen lässt, das habe doch keinen Zweck gehabt, weil nur wenige Steinewerfer abgelichtet wurden, die gegen sowjetische Panzer keine Chance hatten.

Gleichwohl ist der 17. Juni 1953 ein Tag gewesen, an dem sich die Energie eines Aufstandes manifestiert habe. Ein Machtverlust der SED war im Bereich des Realisierbaren, was durch die Besetzung von Staatsimmobilien, auch Gefängnissen, unterstrichen wurde.

Die Ausgangsituation ist die einer DDR als einem staatlichen Provisorium. Zu den „Erfolgen“ der Machthaber gehörten vor dem Aufstand die Enteignungen der Großindustrie und die Verhaftung demokratischer Politiker. Blockparteien waren mit Gewalt eingebunden in das politische System und somit war die Diktatur etabliert. Doch damit nicht genug: Im Jahr 1952 kam es zur Verschärfung des Kurses, dem sogenannten „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“, wozu militärische Aufrüstung (kasernierte Volkspolizei) und entsprechende Verlagerung der Staatsfinanzen weg von der Versorgung und hin zu Rüstung gehörte.

Die DDR-Führung widmete sich dem, was sie „Klassenkampf“ zu nennen pflegte, und hatte dabei die bürgerlichen Schichten im Blick. Aber auch die Bauern wurden mittels Beschimpfung oder schlimmstenfalls Verhaftung zur Kollektivierung gezwungen. Man warf ihnen Straftaten vor, und dazu gehörten vor allem Verstöße gegen das obligatorische Ablieferungs-Soll. Konnten Bauern es nicht erfüllen, kam es zu Verhaftungen und drakonischen Urteilen mit zum Teil absurden Begründungen. Eine hohe Zahl von DDR-Bürgern geriet so ins Gefängnis (ca. 40.000) oder in Untersuchungshaft (ca. 20.000).

Die Folge war, dass immer öfter Bauern den Weg über die Zonengrenze wählten, und auf diese Weise verkamen ihre Höfe. Die Staatsführung machte sich stärker an die Reste der bürgerlichen Gesellschaft heran, nahm auch die Kirchen in verstärkte Beobachtung. Denn dort gab es für die Jugendlichen oftmals Freiräume in der Jungen Gemeinde. Deren Mitarbeiter galten staatlicherseits als Agenten von Sabotage-Organisationen, wie der zeitgenössischen Presse zu entnehmen ist. An Schulen titulierte man Kinder auf Vollversammlungen als „Klassenfeinde“, wenn sie im Umfeld der Kirche waren. Ein Pfarrer wurde wegen „Tyrannei des Dorfes“ zu drei Jahren Haft verurteilt.

Während also die Umverteilung der Finanzen vom Konsum zu Schwerindustrie und Waffenproduktion lief, machte sich große Unzufriedenheit breit, gesteigert noch durch die Omnipräsenz optimistischer Parolen quer durch die DDR. Die Sowjets sahen dem nicht tatenlos zu und empfahlen der DDR-Führung im Mai 1953 einen neuen Kurs, da man in Moskau die allgemeine Lebensmittelversorgung gefährdet sah.

Der Ministerrat der Sowjetunion beorderte die SED-Spitze nach Moskau und übte fundamentale Kritik am bisherigen Vorgehen. Die Wege im Umgang mit Kirche und Kollektivierung seien die falschen. Walter Ulbricht war konsterniert, musste er doch mit seinen Genossen diese Weisungen im Nebenraum in eigenen Worten zusammenfassen. Er hätte gern seinen 60. Geburtstag groß gefeiert, doch das musste jetzt ausfallen. Zum neuen Kurs gehörte auch, dass alle Parolen abgebaut werden müssten.

Neue Pläne für die Planwirtschaft mussten nun geschrieben werden. Ein Kommuniqué wurde beschlossen, und Wladimir Semjonow, seit kurzem Hoher Kommissar der Sowjetunion in Deutschland, drängte darauf, es noch am selben Tag zu veröffentlichen. Dies war das einzige Mal in der Geschichte der DDR, dass in den Medien zu erfahren war, dass die Regierung Fehler gemacht hat. Es war in der Tat ein riskanter Moment für den weiteren Verlauf der Ereignisse. Denn das Volk merkte: Sie wissen nicht mehr weiter. Dieses klar erkennbare Zeichen der Schwäche führte zu einer Verunsicherung, die auch Ermutigendes mitbrachte.

Ende Mai 1953 wurde verlautbart, dass die Arbeitsnormen um 10% anzuheben seien. Dies geschah auf die Weise, dass man einfach für die geleistete Arbeit 10% weniger Lohn bekam. Bei der Lohnauszahlung am 10. Juni wurde das offenkundig. Ausgehend vom Krankenhaus Friedrichshain bildeten sich Versammlungen, „Agitatoren“ – Gewerkschafter – schalteten sich ein, ein Brief an den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl wurde aufgesetzt und vervielfältigt in Umlauf gebracht. Man hatte der Staatsführung eine Frist zu antworten von vier Tagen gesetzt.

Als am 16. Juni noch immer keine Antwort gekommen war, setzte sich ein Trupp von anfangs achtzig Bauarbeitern in der Stalinallee in Bewegung. Andere schlossen sich an. Die damaligen Polizeiberichte haben alles akribisch dokumentiert. Am Alexanderplatz waren schon 3.000 zusammengekommen. Weiter ging es bis zum Haus der Ministerien nahe dem Potsdamer Platz. Inzwischen hatten sich zur ursprünglichen Forderung „Normsenkung“ noch andere hinzugesellt: Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Freilassung der Gefangenen.

Der Industrieminister wurde ausgewählt, den Demonstranten zu antworten. Die Drohung mit einem Generalstreik lag in der Luft. Westliche Journalisten konnten wegen der geringen Entfernung zur Sektorengrenze schnell mitbekommen, was hier vor sich ging, und berichteten darüber. Darum konnte die DDR später verbreiten, es habe sich um eine Aktion „westlicher Provokateure“ gehandelt.

Es wurde unter den Demonstranten die Parole ausgegeben: Morgen sieben Uhr, Strausberger Platz. Am 17. Juni dann zogen etliche in Erwägung, dass sie sich dem Streik der Bauarbeiter aus Solidarität anschließen. Als Ziel wurde mittlerweile der Rücktritt der Regierung ausgegeben. Von oben her wurde in den Betrieben Versammlungen einberufen, um die Arbeiter aufzuklären, dass sie falsch liegen. Doch der Arbeiteraufstand entwickelte sich zum Volksaufstand.

Es wurden Gebäude gestürmt und die noch hängenden Stalin-Plakate abgerissen. Der neue Kurs der Sowjets besagte aber, dass nicht geschossen werden solle. Die Verantwortlichen im ganzen Land versuchten abzutauchen. Das ermöglichte den Demonstranten den Zugang erst recht. In Niesky wurden Stasibedienstete in einen Hundezwinger gesperrt, in Jena fand eine öffentliche Befragung der Stasi statt. Gefängnisse wurden gestürmt, um die politischen Gefangenen zu befreien. Man verhandelte mit dem Wachpersonal wegen der Haftgründe, insgesamt konnten 1.400 Häftlinge befreit werden.

Zur Bilanz des 17. Juni gehören allerdings auch Tote auf beiden Seiten wegen des Einsatzes von Waffen. Ab 10 Uhr wurde die Evakuierung der DDR-Regierung durch die Sowjets umgesetzt, ab 13 Uhr das Kriegsrecht verhängt. Sowjetisches Militär wurde an die Sektorengrenze beordert. Ein standrechtliches Erschießen der Täter war eingeplant worden. Zunächst hatten die sowjetischen Militärs die Versammlung nur beobachtet, dann wurde ein Einsatz von Panzern beschlossen. Befehle, auf Aufständische zu schießen, wurden erteilt. Um 12 Uhr gibt es ein erstes Todesopfer am Potsdamer Platz.

Das bloße Auftauchen der sowjetischen Panzer hatte zunächst keine Wirkung gezeigt, deshalb ließ man nun die Fahrzeuge – von Schützen mit Maschinengewehren flankiert – in die Menge fahren. Auch die kasernierte Volkspolizei wurde mit einbezogen. Zeitversetzt überzog dann der Einsatz des Militärs bis zum Abend die ganze DDR. Es kam insgesamt zu 15.000 Festnahmen.

In der Aufarbeitung des Aufstandes unterschied das Politbüro zwischen den eigentlichen „Provokateuren“ und den „irregeleiteten Arbeitern“. Den Angehörigen der Streik-Komitees drohten bis zu 12 Jahre Haft. Es wird von 54 Personen gesprochen, die durch die Ereignisse des 17. Juni ihr Leben verloren haben. Ihre Gräber sind nicht bekannt.

Aus diesem Tag sind einige Aspekte für heute relevant:

Zunächst die Zivilcourage, der Mut zum Widerstand. Es handelte sich ja keineswegs, wie oft kolportiert, um einen Aufstand Namenloser, eine „anonyme Masse“. Nur fehlen die Biografien der damals Beteiligten im öffentlichen Bewusstsein.

Als geschichtliche Botschaft kann man dem 17 Juni auch entnehmen, dass sich das DDR-Regime, das als Terror-Regime „von oben“ demaskiert wurde, nur durch sowjetischen Einsatz am Leben halten konnte.

Moskau handelte in der Tradition imperialistischer Großmächte.

Was die Reaktionen des Westens angeht, so ist ein frappierendes Desinteresse festzustellen. Großbritanniens Premier Churchill argumentierte gar ebenfalls als Imperialist, der gar nichts von Aufständen in besetzten Gebieten hielt. Konrad Adenauer dachte, es sei ein sowjetischer Versuch, die deutsche Frage wieder auf die Tagesordnung zu bringen.

Festzuhalten ist auch, dass sowohl SED als auch Stasi von den Ereignissen kalt überrascht wurden. Dies muss auch an der Abgehobenheit der herrschenden Klasse gelegen haben, die so gut wie keine Gemeinsamkeiten mit „denen da unten“ mehr hatte. Eine Mahnung für unsere eigene Zeit ist darin allemal enthalten.

Die Fragwürdigkeit einer Ideologisierung von Politik ist ein weiteres Ergebnis des 17. Juni 1953. Man versuchte, Realität nach Visionen zu formen, anstatt die nötige Pragmatik mitzubringen.

Dass damals die Protestierenden pauschal als „Faschisten“ betitelt wurden, erinnert heute an die aktuellen Etikettierungen der Ukrainer durch den Kreml. Hier muss man in beiden Fällen festhalten, dass da ein Missbrauch des Begriffs stattgefunden hat.

Der 17. Juni stellt die Frage an uns, wie wir in Deutschland mit Diktaturen umgehen. Von offizieller Seite wird zuweilen die verbreitete Sehnsucht nach Harmonie in falscher Weise gefördert. Es werden mildernde Umstände gefordert, die meist „linken Diktatoren“ zu Gute kommen sollen.

Am Haus der Ministerien – heute Bundesfinanzministerium – ist ein kaum sichtbares Denkmal angebracht. Es gilt, den 17. Juni aus dem toten Winkel deutscher Erinnerungskultur herauszuholen!

Weitere Eindrücke der Tagung

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