Interview mit Prof. Christine Schirrmacher zu Blasphemie im Islam

Am 7. Januar 2015 haben islamische Extremisten die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ im Herzen von Paris gestürmt und insgesamt zwölf Menschen ermordet, um den „Propheten Mohamed zu rächen“. Die Zeitschrift war bekannt dafür, dass sie nicht nur die französische Politik aufs Korn nahm, sondern immer wieder auch religionskritische Beiträge druckte.

Die IGFM sprach am 9. Januar 2015 mit der Islamwissenschaftlerin Prof. Christine Schirrmacher.

Hat das Blutbad in der Redaktion des Pariser Satiremagazins „Charlie Hebdo“ überhaupt eine Grundlage im klassischen Islam?

Das klassische islamische Schariarecht kennt den Jihad als Angriffs- und Verteidigungskrieg, ebenso die – nach zweifelsfreier Feststellung der Schuld zu erfolgende – Bestrafung eines Kapitalverbrechers, wie etwa des Ehebrechers oder Apostaten. Er kennt die – theoretisch unter Aufsicht eines Richters stehende – Vergeltungstat für Körperverletzung und Totschlag, aber er sagt natürlich nichts über die Privatrache eines Einzelnen unter solchen Umständen aus. Nach der Logik solcher Extremisten handelt es sich jedoch hierbei gar nicht um einen Angriff, sondern um eine notwendige Verteidigung des – durch die Karikatur beschmutzten – Islam, der nun vor den Angriffen der spottenden Ungläubigen durch die Hinrichtung der „Schuldigen“ gerächt werden müsse.

Die Mehrzahl aller Muslime würde diese Logik ablehnen, aber zur Kenntnis nehmen muss man auch, dass sich die radikalen Kräfte mehren und viele Bewunderer und viel Zulauf haben – siehe die insgesamt einige Tausend junger Leute, die zu den barbarischen Untaten des Islamischen Staates (IS) nach Syrien und Irak ausgereist sind, um vermeintlich ein „Kalifat“ aufzurichten. Das radikale Gedankengut aus dem Nahen Osten ist längst auch in Europa beheimatet und trägt hier wie dort seine schlechten Früchte.

Die Al-Ashar Universität in Kairo, die wichtigste Autorität des sunnitischen Islam, erklärte „Der Islam prangert jede Gewalt an“.

Das scheint mir in dieser generellen Form so nicht zutreffend zu sein, denn der Koran erteilt dem Kampf im Namen des Islam keinerlei generelle Absage. Denn im Koran gibt es durchaus Aufrufe, gegen die „Ungläubigen“ in den Kampf zu ziehen oder auch, für den Islam zu streiten.

Der Islamismus als politisierte Form des Islam und der Jihadismus, der die politische Umsetzung des Islam einschließlich der Anwendung des Schariarechts durchsetzen will, sind Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Krisensituation im Nahen Osten entstanden. Damals herrschten dort Stagnation, europäische Fremdherrschaft und fehlende Entwicklungen innerhalb der Theologie. Islamismus und Jihadismus sind also relativ neuen Datums und prägen nicht den Islam oder die islamische Geschichte als solche. Aber der politische Islam beruft sich auf die wesentlichen Quellen des Islam: Koran, Überlieferung, und die Auslegung namhafter früher Theologen, die kein grundsätzliches Verbot von Kriegsführung und Gewalt zur Verteidigung des Islam formulieren. Auch das Vorbild Muhammads als Kriegsherr und das grundsätzliche Gebot, ihn in allem nachzuahmen, ist von der Theologie nie grundsätzlich relativiert worden.

Es gibt zwar viele Gebote zur Einschränkung der Gewaltanwendung beim Jihad und auch Bedingungen, ihn überhaupt zu führen, aber kein generelles Jihad-Verbot in den autoritativen Quellen. Die Frage, wann sich der Islam „verteidigen“ muss, kann natürlich sehr unterschiedlich interpretiert werden. Radikale Bewegungen meinen, das sei der Fall, wenn etwa Karikaturen über den Islam veröffentlicht werden.

Die Taliban, al-Qaida, der „Islamische Staat“, Boko Haram und viele andere Gruppen sind durch ihrer Gewaltexzesse wegen angeblicher Blasphemie oder „Abtrünnigkeit“ bekannt. In der öffentlichen Wahrnehmung sind es vor allem sunnitische Gruppen. Ist der schiitische Islam bei Thema Blasphemie toleranter?

Gewaltexzesse können nicht ausschließlich sunnitisch geprägten Gruppen zugeschrieben werden. Schiiten waren auch an den Gewaltausschreitungen im Irak beteiligt, und die Todesdrohung gegen Salman Rushdie nach Veröffentlichung seines Romans „Die Satanischen Verse“ wurde vom Iran durch den Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini 1989 orchestriert und auf Rushdies Ermordung ein hohes Kopfgeld ausgesetzt. Die Geltung der Fatwa wurde sogar nach Khomeinis Tod verlängert bzw. erneuert. Und das iranische Strafrecht enthält auch heute in Art. 513 bis 515 Formulierungen, die die „Beleidigung“ des Islam, der Propheten oder Imame des schiitischen Islam mit dem Tod bedroht, die Beleidigung Khomeinis mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe und eine Verunglimpfung des Obersten Rechtsgelehrten des Iran mit drei bis zehn Jahren Gefängnis.

Der schiitische Islam hat sich ebensowenig von den klassisch-theologischen Begründungen für die erlaubte Verteidigung des Islam verabschiedet wie der sunnitische Islam – wobei jeweils sehr unterschiedlich interpretiert werden kann, was denn „Verteidigung“ ist. Vielleicht denken auch einige Extremisten an Koranverse wie den folgenden, der allerdings in Bezug auf die muslimische Gemeinschaft sagt: „… Sag: ‚Wie konntet ihr euch über Gott und seine Zeichen und seinen Gesandten lustig machen? Ihr braucht keine Entschuldigungen vorzubringen. Ihr seid ungläubig geworden, nachdem ihr gläubig wart. Wenn wir einer Gruppe von euch verzeihen, so bestrafen wir eine andere Gruppe dafür, dass sie Sünder waren“ (9,65-66). Ein gängiger Korankommentar legt diesen Vers mit Berufung auf einen der berühmtesten Vordenker eines orthodox-politischen Islam, Abu l-Ala Maududi (1903-1979), so aus: „Wer aus mangelnder Ernsthaftigkeit überhaupt Gefallen an belanglosem Gerede findet, ist vielleicht ausgenommen. Es gibt jedoch andere, die absichtlich ihren Spott mit ernsthaften Dingen treiben, weil sie den Propheten und seine Lehre ins Lächerliche ziehen und die Moral der Gläubigen untergraben wollen. Sie sind keine Unwissenden, sondern Verbrecher.“ [Quelle: Die Bedeutung des Korans. Teil 9, 10 und 11. SKD Bavaria Verlag: München, 1991].

Christine Schirrmacher ist Islamwissenschaftlerin und lehrt als Professorin für Islamwissenschaft an verschiedenen Universitäten. Sie habilitierte sich an der Universität Bonn mit einer Arbeit über die Positionierung einflussreicher muslimischer Theologen des 20. Jahrhunderts zu Religionsfreiheit, Menschenrechten und dem Abfall vom Islam.

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