Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam
Einleitung
Die Aktualität der Frage nach der Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten liegt angesichts der aktuellen Ereignisse auf der Hand. Trotz weltweiter Proteste droht der Iranerin Sakineh Mohammadi-Ashtiani weiterhin die Steinigung wegen Ehebruchs. Aus der islamischen Perspektive der iranischen Mullahs hat sie ihr Recht auf Leben verwirkt, weil sie sich nach den Maßstäben des islamischen Rechts (Scharia) eines schweren Vergehens schuldig gemacht hat, das in bestimmten Fällen mit dem Tod bestraft werden muss. Der große internationale Protest erinnert an den Prozess gegen den zum Christentum konvertierten Afghanen Abdul Rahman, der Anfang 2006 aufgrund seines Abfalls vom Islam in seiner afghanischen Heimat zum Tod verurteilt werden sollte. Angesichts des internationalen Drängens auf Freilassung Abdul Rahmans sahen die afghanischen Richter nach den Maßstäben der Scharia keine andere Möglichkeit, als Abdul Rahman für geisteskrank zu erklären. Der so knapp der Todesstrafe entkommene Konvertit fand anschließend Zuflucht im italienischen Exil.
Bereits an diesen zwei praktischen Beispielen wird deutlich, wie wichtig eine vertiefte Beschäftigung mit dem Wesen islamischer Menschenrechtserklärungen ist. Eine Leitfrage dieses Vortrags wird daher sein, inwiefern die von 45 Außenministern islamischer Staaten unterschriebene Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (KEM) vom 4. August 1990 eher ein Verbot oder eine Rechtfertigung für ein derartiges Vorgehen wie im Iran oder in Afghanistan bietet. Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte (KEM) wird dabei vor allem mit einzelnen Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 (AEMR) verglichen.
Die Antwort der UNO auf die Erfahrungen des totalitären Nationalsozialismus
Vor einem detaillierten Vergleich erscheint es jedoch sinnvoll, sich noch einmal den jeweiligen historischen Entstehungskontext beider Erklärungen und die unterschiedlichen Intentionen ihrer Abfassung vor Augen zu führen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) war vor allem eine Reaktion auf die systematische Verletzung von Menschenrechten im Zuge des Zweiten Weltkrieges und insbesondere im totalitären Deutschland der National-Sozialisten. In der Präambel heißt es, dass die „Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, daß einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt“. Die AEMR verzichtet dabei auf eine spezifisch religiöse Legitimation und hält fest, dass „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“. Auch wenn entscheidende Impulse für die Erklärung aus den USA sowie anderen westlichen Staaten kamen, haben auch asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Staaten großen Anteil an ihrer Abfassung. Sogar zahlreiche muslimische Staaten, die seit den Achtzigern immer schärfere Kritik an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) äußerten, haben 1948 noch an derselben Erklärung mitgearbeitet und dieselbe, mit Ausnahme Saudi-Arabiens, vollständig mit unterstützt. Wo einzelne Vertreter muslimischer Staaten ihr Unbehagen gegenüber einzelnen Artikeln zu Ehe und Familie und zur Religionsfreiheit zum Ausdruck brachten, unterschied sich ihre Opposition nach Untersuchungen der Politikwissenschaftlerin Susan Waltz nicht wesentlich von der einiger nicht-islamischer Staaten. Infolge einer starken Reislamisierungsbewegung und des Erstarken islamistischer Gesellschaftsmodelle wandelte sich jedoch in den folgenden fünfzig Jahren und insbesondere seit der islamischen Revolution im Iran 1979 und der Verschärfung des Nahostkonflikts die Haltung islamischer Länder zur universalen Gültigkeit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR).
Die Reislamisierungsbewegung und die Menschenrechtsfrage
Zwei Jahre nach der iranischen Revolution beschrieb der iranische Vertreter, Rajaie-Khorassani, bei der 36. UNO-Generalversammlung 1984 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 (AEMR) als säkulare Interpretation der jüdisch-christlichen Tradition, die von Muslimen nicht angewandt werden könne. Bei der Wahl zwischen ihren Maßgaben und dem „göttlichen Gesetz“ seines Landes werde man sich immer für das „islamische Gesetz“ entscheiden. 1984 bekräftigen er, dass der Iran keine Autorität oder Macht außer von Gott, dem Allmächtigen, anerkenne und auch keine andere rechtliche Tradition als die des islamischen Gesetzes. Entscheidend ist hier die geforderte Aufrichtung der Scharia als allen menschlichen Gesetzen überlegene göttliche Ordnung.
Bereits 1964 hatte der einflussreiche ägyptische islamistische Denker Saiyid Qutb das islamische Verständnis von Freiheit als die „Ablehnung aller Arten und Formen von Systemen [beschrieben], die auf das Konzept der Souveränität des Menschen basieren; mit anderen Worten, wo der Mensch sich die göttlichen Eigenschaften widerrechtlich angeeignet hat. Jedes System, in dem die letzte Entscheidung auf Menschen zurückgeführt wird, und in dem die Quellen der Autorität menschlich sind, in dem der Mensch vergöttlicht wird durch die Bestimmung von anderen außer Allah als Herren über die Menschen, ist abzulehnen. Diese Erklärung bedeutet, dass die widerrechtlich angeeignete Autorität Allahs zu Ihm zurückgegeben wird und die Usurpatoren hinausgeworfen werden – jene, die sich selbst Gesetze ausdenken, damit andere Folge leisten […] Wie die später entstandenen islamischen Menschenrechtserklärungen beansprucht Qutb für die islamische Ordnung universale Gültigkeit: „Diese Religion ist nicht lediglich die Deklaration der Freiheit der Araber, noch ist ihre Botschaft auf die Araber beschränkt. Sie richtet sich an die ganze Menschheit und ihr Arbeitsgebiet ist die ganze Welt.“
Islamische Revision bzw. Ergänzung der UNO-Erklärung?
Unterschiedliche Vertreter islamischer Staaten haben verstärkt seit den Achtzigern über verschiedene UN-Menschenrechtsgremien darauf hingewiesen, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) ergänzt bzw. revidiert werden müsse – so unter anderem auch der damalige iranische Außenminister Kamal Kharazi bei der 50jährigen Jubiläumsfeier der UNO-Erklärung im März 1998. Bereits im November desselben Jahres gab es daraufhin ein zweitägiges Seminar, das die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, zusammen mit der OIC organisierte. Zwanzig Experten aus OIC-Länder stellten „Islamische Perspektiven“ zur UN-Erklärung vor. Die anschließende Diskussion war auf die islamischen Referenten beschränkt. Die 250 Vertreter von achtzig Staaten, NGOs und UN-Behörden hatten keinerlei Möglichkeiten zu Rückfragen und Kommentaren. Heute sind zahlreiche Mitglieder der Organisation islamischer Staaten (OIC) auch Mitglied im UN-Menschenrechtsrat und haben dort in den letzten Jahren Resolutionen gegen die Diffamierung von Religionen durchgesetzt, mit denen vor allem der politische Islam vor jeglicher Kritik geschützt werden soll. Um derartige Islamkritik zu verhindern, sollen im Menschenrechtsrat künftig keine schariabezogenen Menschenrechtsverletzungen mehr thematisiert werden.
Menschenrechte als islamische Errungenschaft?
Der Versuch, eine islamische Perspektive auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der UNO zu entwerfen oder anderes gesagt, diese Erklärung nach den Maßgaben der Scharia zu revidieren, führte zur Verabschiedung eigener islamischer Menschenrechtserklärungen. Am 19. September 1981 verabschiedete der in London ansässige Islamrat von Europa auf Initiative des saudischen Königshauses und unter Beteiligung von sudanesischen, pakistanischen und ägyptischen Gelehrten die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam“. Ähnlich wie später in der Kairoer Erklärung, verdeutlicht bereits die Präambel den apologetischen Versuch, Menschenrechte als originär islamisches Konzept darzustellen: „Vor 14 Jahrhunderten legte der Islam die „Menschenrechte“ umfassend und tiefgründend als Gesetz fest […] Der Islam ist die letzte der Botschaften des Himmels, die der Herr der Welten seinen Gesandten – Heil über sie! – offenbarte, damit sie sie den Menschen überbrächten als Recht und Anleitung, was ihnen ein gutes und würdiges Leben, beherrscht von Recht, Wohlfahrt, Gerechtigkeit und Heil, gewährleiste.“ Die folgenden Artikel werden als „Rechte [verstanden], die der Schöpfer – gepriesen sei er! – festgelegt hat. Der Mensch, wer immer er auch sei, hat kein Recht, sie auszusetzen oder zu verletzen“. Auch wenn die folgenden Artikel teilweise – zumindest in ihrer englischen Fassung – der UNO-Erklärung ähneln, ergeben sich doch schwerwiegende Einschränkungen einzelner Freiheiten sowie des Grundsatzes der Gleichberechtigung, sowohl was die Beziehung von Mann und Frau als auch das Verhältnis von Muslimen und Nichtmuslimen angeht. Im Folgenden sollen jedoch die wichtigsten Unterschiede anhand der Kairoer Erklärung von 1990 dargestellt werden, die sehr viel komprimierter verfasst ist als die Londoner Erklärung von 1981.
Die Kairoer Präambel
Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte (KEM) wurde am 4. August 1990 von den 45 Außenministern der Organisation islamischer Staaten (englisch: Organisation of Islamic Conference, OIC) unterzeichnet. Die 1969 gegründete OIC kann mit ihren heute 57 Mitgliedsstaaten als einflussreichste islamische Institution gelten mit einem ausgesprochen starken Einfluss auf die globale Politik. Zu ihren selbst benannten Zielen gehört die „Befreiung Jerusalems und der Al-Aksa von der zionistischen Besatzung“, die Stärkung der „islamischen Solidarität unter den Mitgliedsstaaten“, die Koordinierung von Aktionen zum „Schutz der Heiligen Stätte“ sowie die Unterstützung des Kampfes der „muslimischen Völker für den Schutz ihrer Würde, Unabhängigkeit und nationalen Rechte“. Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte (KEM) selbst hat bislang keinerlei völkerrechtliche Verbindlichkeit. Sie kann aber als durchaus einflussreiche konzeptionelle Leitlinie für die Gesetzgebung der einzelnen Mitgliedsstaaten verstanden werden, von denen die meisten die Scharia als Haupt- oder als einzige Quelle der Gesetzgebung in der Verfassung ausdrücklich erwähnen.
Bereits ein Vergleich der jeweiligen Präambeln verdeutlicht die ganz unterschiedlichen Ausgangspunkte der KEM und der AEMR. Während, wie oben dargelegt, die AEMR auf eine religiöse Legitimation und die Hervorhebung einer bestimmten religiösen Gemeinschaft verzichtet, betonen die OIC-Mitglieder „die kulturelle und historische Rolle der islamischen Umma, die von Gott als die beste Nation geschaffen wurde und die der Menschheit eine universale und wohlausgewogene Zivilisation gebracht hat“. Weiter betonen die Verfasser die besondere „Rolle, die diese Umma bei der Führung der durch Konkurrenzstreben und Ideologien verwirrten Menschheit und bei der Lösung der ständigen Probleme dieser materialistischen Zivilisation übernehmen sollte“. Hier wird bereits die missionarisch-apologetische Ausrichtung der Erklärung deutlich, wenn eine bestimmte religiöse Gemeinschaft als „beste Nation“ hervorgehoben und die Ausbreitung ihres Glaubens als Voraussetzung für die Lösung der Probleme einer verwirrten Menschheit beschrieben wird. Damit werden bereits in der Präambel die Weichen für eine Bevorzugung von Muslimen und die Diskriminierung von Nichtmuslimen in verschiedenen Bereichen von Staat und Gesellschaft gestellt.
Weiter heißt es, dass die Menschheit, „die einen hohen Stand in der materialistischen Wissenschaft erreicht hat, immer noch und auch in Zukunft dringend des Glaubens bedarf, um ihre Zivilisation zu stützen“. Die folgenden Artikel werden als „verbindliche Gebote Gottes“ verstanden, „die in Gottes offenbarter Schrift enthalten sind und durch seinen letzten Propheten überbracht worden sind, um die vorherigen göttlichen Botschaften zu vollenden.“ Abschließend wird die Einhaltung dieser Bestimmungen als „Verehrung Gottes“ und ihre „Verletzung“ als „schreckliche Sünde“ bezeichnet.
Einzelne Artikel im Vergleich
Die jeweils ersten Artikel Entsprechend den Ausführungen in der Präambel der AEMR, sind laut Artikel 1 alle Menschen „frei und gleich an Würde und Rechten geboren […] mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Geschwisterlichkeit begegnen.“ Die Würde des Menschen und die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz stehen hier also als oberstes Prinzip über allen weiteren Artikeln. In der Kairoer Erklärung heißt es dagegen in Artikel 1a): „Alle Menschen bilden eine Familie, deren Mitglieder durch die Unterwerfung unter Gott vereint sind und alle von Adam abstammen.“ Berücksichtigt man, dass das arabische Wort für „Unterwerfung“ „Islam“ ist, wird klar, dass hier erst einmal alle Menschen zu Muslimen erklärt werden und damit auch alle dem islamischen Gesetz unterstehen. Weiter heißt es, dass alle „Menschen gleich an Würde, Pflichten und Verantwortung [sind] und das ohne Ansehen von Rasse, Hautfarbe, Sprache, Geschlecht, Religion, politischer Einstellung, sozialem Status oder anderen Gründen.“ Dabei wird jedoch der wahrhafte [islamische] Glaube“ als „Garantie für das Erlangen solcher Würde“ beschrieben. Damit sind die Würde und Rechte des einzelnen Menschen in der Kairoer Erklärung von vorne herein in das islamische Konzept der Unterwerfung unter Gott und sein Gesetz eingeordnet und der entsprechende Schutz seiner Rechte an die Einhaltung bestimmter islamischer Pflichten geknüpft.
Wie weit geht die Glaubensfreiheit?
Unmissverständlich heißt es in Artikel 18 der AEMR: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.“ Einen vergleichbaren Artikel zur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und insbesondere zum Wechsel der eigenen Religion sucht man in der Kairoer Erklärung vergeblich. Stattdessen heißt es dort in Artikel 10: „Der Islam ist die Religion der reinen Wesensart. Es ist verboten, irgendeine Art von Druck auf einen Menschen auszuüben oder seine Armut oder Unwissenheit auszunutzen, um ihn zu einer anderen Religion oder zum Atheismus zu bekehren.“ Auch an dieser Stelle wird der missionarisch-apologetische Charakter der Erklärung deutlich. Der Artikel spiegelt die Überzeugung muslimischer Gelehrter wieder, dass es keine vernünftigen und nachvollziehbaren Gründe geben kann, um sich vom Islam als der vermeintlich (einzigen) reinen und unverfälschten Religion ab- und einem anderen Glauben zuzuwenden. Wer sich dennoch abwendet, kann aus dieser Perspektive entweder nur gezwungen und manipuliert worden sein (siehe Begründung des in nahezu allen islamisch geprägten Ländern geltende Missionsverbot für religiöse Minderheiten) oder böse bzw. feindliche Absichten verfolgen. Aus diesem Grund rechtfertigt die Mehrzahl der islamischen Gelehrtenwelt bis heute die Todesstrafe für denjenigen, der sich erkennbar vom Islam abwendet und damit aus ihrer Sicht das Fundament von Staat und Gesellschaft verrät. Dementsprechend steht auch das Recht auf Leben in Artikel 2a) der Kairoer Erklärung unter dem Vorbehalt der Scharia: „es ist verboten, einem anderen das Leben zu nehmen, außer wenn die Scharia es verlangt.“
Was sind die Grenzen der Meinungs- und Informationsfreiheit?
Auch die islamisch definierte Einschränkung der Meinungs- und Informationsfreiheit gründet auf der Überzeugung, dass es keine legitime kritische Reflexion über die Quellen der islamischen Religion und das zeitlos und umfassend verstandene Vorbild ihres Propheten geben kann. Nach Artikel 22a) hat jeder Mensch daher nur insofern das Recht auf freie Meinungsäußerung, „soweit er damit nicht die Grundsätze der Scharia verletzt“. Meinungsfreiheit als göttlich legitimiertes Recht nach Artikel 2b) dient daher vor allem dazu, „im Einklang mit den Normen der Scharia für das Recht einzutreten, das Gute zu verfechten und vor dem Unrecht und dem Bösen zu warnen.“ Dementsprechend darf auch Information nach Artikel 22c) nicht „dafür eingesetzt und missbraucht werden, die Heiligkeit und Würde der Propheten zu verletzen, die moralischen und ethischen Werte auszuhöhlen und die Gesellschaft zu entzweien, sie zu korrumpieren, ihr zu schaden oder ihren Glauben zu schwächen.“ Folglich steht auch die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit unter Schariavorbehalt. Nach Artikel 16 der KEM hat jeder „das Recht, den Erfolg seiner wissenschaftlichen, literarischen, künstlerischen oder technischen Arbeit zu genießen und die sich daraus herleitenden moralischen und materiellen Interessen zu schützen, vorausgesetzt, daß die Werke nicht den Grundsätzen der Scharia widersprechen.“ Im deutlichen Kontrast zur KEM garantiert die AEMR in Artikel 27 II ausdrücklich, „Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“
Wie stark das KEM-Verständnis der Meinungsfreiheit das politische und gesellschaftliche Leben islamisch geprägter Länder prägt, zeigen die zahlreichen Prozesse gegen einzelne Reformer, die ihre säkulare Staatsauffassung und damit einhergehend ihre Kritik am politischen Herrschaftsanspruch des Islam öffentlich verteidigten. Zu den bekannteren Beispielen zählt der Prozess gegen den ägyptischen Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid, der eine historisch-kritische Auslegung des Korans gefordert hatte. Vor einem ägyptischen Gericht wurde 1995 der Anklage der Apostasie gegen ihn stattgegeben und seine Ehe in der Folge für ungültig erklärt. Abu Zaid floh mit seiner Frau ins holländische Exil und lehrte bis zu seinem Tod im Juli 2010 als Professor für Humanismus und Islam an der Universität von Utrecht. Aber auch auf der Bühne der internationalen Politik versuchen islamische Staaten eine den Vorgaben der Scharia gemäße Einschränkung der verschiedenen Kommunikationsfreiheiten durchzusetzen. Untersucht man beispielsweise ihre Stellungnahmen zu den vielerorts gewaltsamen Protesten gegen die dänischen Muhammad-Karikaturen, erscheinen weniger die militanten Islamisten als vielmehr die islamkritischen Journalisten und Karikaturisten als Bedrohung des Weltfriedens, da sie die vermeintlich von Gott gesetzten Grenzen ihrer Meinungs- und Kunstfreiheit überschreiten.
Rolle und Rechte der Frau
Zum Verhältnis der Geschlechter heißt es in Artikel 6a) der KEM, dass die Frau dem Mann an Würde gleich ist. Es heißt hier eben nicht, dass sie die gleichen Rechte hat. Vielmehr wird ergänzt, dass sie Rechte und auch Pflichten habe und Artikel 6b) stellt fest, dass der Ehemann für den Unterhalt und das Wohl der Familie verantwortlich ist. Die unklare Formulierung lässt durchaus Spielraum für die Umsetzung der koranischen Vorgaben, dass die Stimme der Frau vor Gericht nur halb so viel gilt wie die des Mannes, sie auch nur die Hälfte von dem erbt, was der Mann erbt und dass der Mann im Falle des wiederholten Ungehorsams seiner Frau das Recht zur körperlichen Züchtigung nach Surre 4,34 besitzt. Bezüglich des Rechts auf Heirat haben Männer und Frauen nach Artikel 5a) der KEM das Recht zu heiraten, und sie dürfen durch keinerlei Einschränkungen aufgrund der Rasse, Hautfarbe oder Nationalität davon abgehalten werden, dieses Recht in Anspruch zu nehmen. Hier fehlt das Verbot einer Einschränkung aufgrund der Religion, da es nach Auffassung muslimischer Gelehrter einer muslimischen Frau nicht erlaubt ist, einen nichtmuslimischen Mann zu heiraten, während ein muslimischer Mann durchaus eine nichtmuslimische Frau heiraten darf. Muslimische Apologeten sind jedoch stets bemüht darzulegen, dass solche Bestimmungen keine Diskriminierung der Frau darstellen, sondern der „göttlich bestimmten Ungleichheit zwischen Mann und Frau“ gerecht werden. „Gleichheit vor Gott“ oder „gleiche Würde“ bedeutet daher „nicht notwendig Gleichheit vor dem Gesetz“. Es geht in den Worten islamischer Apologeten eher um Geschlechtergerechtigkeit als um Geschlechtergleichheit.
Weitere Menschenrechtseinschränkungen und der generelle Schariavorbehalt
Indem Artikel 7b) das Erziehungsrecht der Eltern unter den Vorbehalt der Übereinstimmung „mit den ethischen Werten und Grundsätzen der Scharia“ stellt, wird die Erziehung eines muslimischen Kindes durch einen Nichtmuslim praktisch ausgeschlossen. Auch weitere Rechte wie das auf körperliche Unversehrtheit stehen unter dem Vorbehalt der Scharia. Nach Artikel 2d) ist es daher verboten, „dieses Recht zu verletzen, außer wenn ein von der Scharia vorgeschriebener Grund vorliegt.“ Aus dieser Perspektive stellt beispielsweise die Amputation der Hand im Fall des Diebstahls (mit Verweis auf Sure 5,38) oder die Steinigung in bestimmten Fällen des Ehebruchs keinen unrechtmäßigen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit dar. Dasselbe Prinzip einer islamischen Relativierung der einzelnen Menschenrechtsgarantien der AEMR ließe sich auch an weiteren Menschenrechten verdeutlichen. Ganz unmissverständlich heißt es in der KEM abschließend, dass alle „Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt wurden, […] der islamischen Scharia [unterstehen]. (Artikel 24) und die islamische Scharia „die einzig zuständige Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung“ ist (Artikel 25).
Die fehlende Trennung zwischen Staat und Religion
In diesem skizzenhaften Vergleich wird deutlich, dass das Kernproblem islamischer Menschenrechtserklärungen in der Überordnung der Scharia und der damit fehlenden Trennung zwischen Staat und Religion liegt. Eine konsequente Gleichberechtigung von Muslimen und Nichtmuslimen sowie Männern und Frauen ist damit ausgeschlossen, auch wenn das im Fall der KEM weniger aus dem Wortlaut als aus dem generellen Vorbehalt der Scharia sowie aus ihrem Schweigen zur vollen Rechtsgleichheit der Frau und zur negativen Religionsfreiheit geschlossen werden kann. Islamistische Vordenker verweisen in ihren Aufrufen zur Aufrichtung der Scharia stets auf das umfassend und zeitlos gültig verstandene Vorbild Muhammads als letztem Propheten. Während er in Mekka selber noch mit seiner Botschaft vom allmächtigen Schöpfer und Richtergott von seinen Stammesgenossen verfolgt wurde, wandelte er sich mit seinem Auszug nach Medina vom religiösen Prediger zum Gesetzgeber, Feldherr und Richter einer rasch wachsenden muslimischen Gemeinschaft. Die war fortan religiös definiert und was Muhammad an Gesetzen und Ordnungen erließ, galt ihm selbst und gilt vielen seiner Nachfolger bis heute als göttliche und damit nicht zu hinterfragende Offenbarung Gottes, die folglich über jedem menschlichen Gesetz stehen muss. Der Gehorsam gegenüber Muhammad wurde und wird vielerorts heute noch gleichgesetzt mit dem Gehorsam gegenüber Gott.
Die fehlende Einklagbarkeit aufgrund der Vieldeutigkeit der Begriffe
Ein weiteres Problem liegt in der Vieldeutigkeit der Formulierungen. Das gilt insbesondere für den Begriff der Scharia selbst. Der Begriff kommt im Koran selbst nur einmal vor, entwickelte sich jedoch im Laufe eines rechtswissenschaftlichen Diskurses vom 8. bis zum 10. Jahrhundert zum Synonym für Gottesrecht. In Verbindung mit der in zahlreichen Koranstellen erwähnten göttlichen Rechtleitung durch die alle Lebensbereiche umfassende islamische Botschaft versuchten die muslimischen Rechtgelehrten, nicht nur alle rituellen und ethischen, sondern auch sämtliche zum Teil erst nach Muhammad aufgekommen Fragen von Staat und Gesellschaft mit Rückgriff auf den Koran und die islamische Überlieferung über Muhammads Worte und Taten zu klären. So regelt die Scharia sowohl das ethische Verhalten des Menschen in Ehe, Familie und Gesellschaft und beinhaltet insofern mehr oder weniger eindeutige Vorschriften für das Ehe- und Erb-, Zeugen- und Straf-, Wirtschafts- und Stiftungsrecht. Auf der anderen Seite legt sie auch die genauen Abläufe der rituellen islamischen Pflichten, der so genannten Fünf Säulen, fest und schreibt beispielsweise den genauen Ablauf des täglichen rituellen Gebets vor. Nach Maurits Berger beschäftigt sie sich „gleichermaßen mit dem richtigen Verhalten im Badezimmer ebenso wie auf dem Schlachtfeld, auf dem Markt wie in der Moschee.“ Scharia bezeichnet heute insofern die Gesamtheit der göttlichen Gebote, wie sie muslimische Rechtsgelehrte – ggf. unter Verwendung des Analogieschlusses und per Rückgriff auf den historisch begründeten islamischen Konsens aus dem Koran und der Überlieferung ableiten. Dagegen stellt sie aber eben keinen offiziell festgelegten Kanon eindeutig definierter Gesetze dar. Insbesondere mit Blick auf diese Interpretationsbedürftigkeit des islamischen Gesetzes lässt sich daher in den Worten Hans Zirkers resümieren, dass die KEM neben den allgemeinen moralischen Forderungen „keine realisierbaren Normen und gültige, einklagbare Rechtssätze“ formuliert.
Das Beispiel Faraj Fodas (1945-1992)
Die Problematik der von den Islamisten geforderten Einheit von Staat und Religion lässt sich sehr gut am Beispiel des ägyptischen Intellektuellen Faraj Foda verdeutlichen. In ironischer Anspielung auf die jihadistische Schrift der ägyptischen Jihad-Gruppe mit dem Titel „Die vergessene Pflicht“ tritt Foda in seinem Buch „Die vergessene Tatsache“ für eine Trennung von Staat und Religion ein. Er widerspricht der islamistischen Argumentation, dass die sofortige Anwendung der Scharia eine „sofortige Gesundung der Gesellschaft und eine sofortige Lösung ihrer Probleme“ zur Folge haben werde. Er möchte den „Beweis führen, dass das Wohl der Gesellschaft weder vom rechtschaffenen muslimischen Herrscher noch vom festen und ehrlichen Glauben der Muslime und ihrem richtigen Religionsverständnis noch von der Anwendung von Buchstabe und Geist der Scharia abhängt.“ Für ihn geht es vielmehr um ein Regulativsystem, „das den Machthaber im Falle von Fehlern oder unzulässigen Handlungen zur Rechenschaft zieht, das seine Absetzung bewirken kann, sofern er den Interessen der Gemeinschaft schadet.“ Letztlich sieht er die islamischen Gesellschaften vor die Entscheidung zwischen „Religions- und Zivilstaat“ gestellt. Mit dieser klaren Forderung zog sich Foda nicht nur den Hass der radikalen Jihadisten zu, die ihn am 8. Juni 1992 vor seinem Haus erschossen. Auch die als moderat geltenden einflussreichen Scheichs der renommierten al-Azhar Universität und anderer islamischer Einrichtungen sahen in ihm einen gefährlichen „Feind des Islam“. Im Gerichtsprozess gegen Fodas Mörder rechtfertigte der ägyptische Gelehrte Mahmud Muhammad Mazru’a als Gutachter der Verteidigung die Ermordung Fodas, da er ein Apostat gewesen sei und der dafür vorgesehenen Strafe zugeführt werden müsste. Die Mörder taten demnach nur, was der Staat hätte tun sollen. In einem Buch zur Apostasie bekräftigt Mazru’a die unauflösliche Einheit von Religion, politischer Herrschaft und sozialer Ordnung im Islam. Daher ist für ihn bereits die Kritik an religiösen Gesetzen oder der Verstoß gegen einzelne Vorschriften strafwürdig, weil sie die gesamte Gemeinde der Gläubigen verunsicherten. Eine Unterdrückung der unbedingt notwendigen kritischen Auseinandersetzung mit dem politischen Erbe des Islam macht eine nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtslage in islamischen Ländern unmöglich. Umso Besorgnis erregender sind die zuletzt äußerst erfolgreichen Versuche der OIC, im UNO-Menschenrechtsrat die offene Diskussion von Menschenrechtsverletzung im Namen der Scharia mit dem Vorwurf der unzulässigen Diffamierung von Religionen zu unterbinden. Dies würde im Endeffekt bedeuten, dass nicht mehr Individuen (zum Beispiel vor dem Eingriff ihre Glaubens-, Meinungs- oder Wissenschaftsfreiheit) geschützt würden, sondern bestimmte Religionen und Ideologien auf Kosten des Individuums.
Der Kairoer Ansatz ist freilich auch unter muslimischen Denkern nicht unumstritten. Wie die verschiedenen Reformansätze aussehen, welchen Einfluss sie innerhalb der islamischen Welt gewonnen haben und welche Chancen auf eine echte Annäherung islamischer Menschenrechtsvorstellungen an die Moderne zu erkennen sind, ist Thema des folgenden Beitrags:
[Ist eine Annäherung des Islam und seiner Menschenrechtserklärungen an die Moderne möglich? … ]
von Carsten Polanz
Vortrag zum IGFM-Seminar „20 Jahren Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“
am 11. September 2010 in Frankfurt am Main