„Er hob sein Maschinengewehr und begann, auf mich zu schießen“

Interview vom 23. Mai 2023

Oleksij Sidorenko

Mychajlo Tepljuk aus Bohdaniwka (ein Dorf in der Region Kyjiw) war auf dem Weg nach Hause, als ein russischer Soldat, der auf einem Panzer saß, auf ihn zu schießen begann. Die ersten beiden Kugeln durchschlugen sein Knie, die dritte riss ihm die Mütze vom Kopf und streifte seine Schläfe. Später kamen die Russen in sein Haus und suchten nach Waffen, sie durchsuchten sogar den ersten Stock.

Ich bin jetzt im Ruhestand. Ich lebe zusammen mit meiner Frau, meiner Tochter, meinem Sohn und zwei Enkelkindern. Mein Sohn wohnt im ersten Stock des Hauses und meine Tochter und meine Enkel leben mit mir und meiner Frau im Erdgeschoss.

Hätten Sie sich vorstellen können, dass es zu einem Krieg kommt?

Ich habe mit meinem Sohn darüber gesprochen. Er sagte, es wird Krieg geben, und ich sagte, das wird nicht passieren. Ich habe sogar darauf gewettet. Ich dachte, sie (die Russen) seien brüderliche Menschen, aber sie erwiesen sich als Mörder. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich sah die Nachrichten im Fernsehen, und unser Präsident sagte, es werde keinen Krieg geben, Russland werde die Ukraine nicht angreifen. Es gab solche Gespräche. Bis zum Schluss fühlte ich mich ruhig.

Wie war der erste Tag des Krieges für Sie?

Ich bin aufgewacht und habe Explosionen gehört. Mein Sohn und meine Tochter sind aufgestanden, haben die Kinder genommen und sind später in die Westukraine geflohen. Meine Frau und ich blieben zu Hause. Wir kauften in den örtlichen Geschäften, was wir brauchten: Brot und so weiter. Aber sonst nichts. Ich habe nicht einmal Geld von meiner Kreditkarte abgehoben. Wir hatten nicht viel, also konnten wir fast nichts abheben.

Als der Krieg begann, verließen die Leute das Dorf. Es gab viele Busse mit der Aufschrift „Kinder“. Die Leute verließen auch die Nachbardörfer: Schewtschenkowe, Rudnja, Tarasiwka. Die Leute gingen durch unser Dorf und verließen es, aber wir gingen nirgendwohin. Wie blieben zu Hause.

Warum sind Sie nicht evakuiert?

Der Krieg schien begonnen zu haben, aber wir glaubten nicht, dass es ein richtiger Krieg war. Bis sie (die russische Armee) am 8. März in unser Dorf kamen. Alles, was wir sahen, waren Panzer, die in die Straße einbogen und weiterfuhren. Zehn, vielleicht 15 Panzer fuhren vorbei. Wir haben nicht gezählt, nur aus dem Fenster geschaut und uns versteckt. Was, wenn sie schießen? Am 9. März verließen sie das Dorf. Während sie durchs Dorf fuhren, saßen wir im Keller.

Ich öffnete die Tür, schaute hinaus und zählte 88 Einheiten von Geräten. Es waren Transportpanzer, „Katjuschas“ (Mehrfachraketenwerfer), Panzer und so weiter.

Sie zogen ab, kehrten aber nach etwa eineinhalb Stunden zurück. Sie wurden bei Skybyn (ein Dorf in der Region Kyjiw) geschlagen. Nur 13 Einheiten kamen zurück. Wir gingen zu unserem Nachbarn. Er sagte, die Russen hätten auf sein Auto geschossen. Wir haben uns sein Auto angesehen und sind dann nach Hause gegangen. Ich ging hinter meinen Schuppen und da stand ein russischer Panzer genau zwischen meinem Haus und dem Schuppen. Ich hob meine Hände, um zu zeigen, dass ich keine Waffe hatte, und er (der russische Soldat) hob sein Maschinengewehr und begann, auf mich zu schießen.

Mychajlo Tepljuk, Bohdaniwka

Eine Kugel durchschlug meinen Körper, eine traf mein Knie und eine weitere meinen Hut. Sie zerriss den Hut und zerkratzte meine Schläfe. Es ist ein Wunder, dass ich überlebt habe. Ich ging in den Keller, um ärztliche Hilfe zu holen. Gott sei Dank gab es Medikamente, auch Antibiotika. Vom 9. bis 19. März liefen wir zwischen Keller und Haus hin und her: Wenn die Russen schossen, versteckten wir uns im Keller, wenn sie nicht schossen, waren wir im Haus. Ich lief auf Krücken, weil mein Körper schmerzte. Einheimische Frauen gaben mir Antibiotika und andere Medikamente, und meine Wunden heilten. Natürlich hätten die Wunden ohne die Frauen, die mich pflegten, geeitert. Sie gaben mir morgens und abends Medikamente. Am 19. März wurden wir aus dem Dorf evakuiert. Unser Nachbar nahm uns im Auto mit und wir fuhren nach Browary (eine kleine Stadt in der Region Kyjiw). Wir gingen direkt zum Rathaus, ich hatte einen Freund, der dort arbeitete. Er brachte mich in das örtliche Krankenhaus. Dort war ich vom 19. März bis zum 7. April. Am 7. April hat mich mein Freund nach Hause gebracht. Ich sagte ihm, dass meine Wunden noch nicht ganz verheilt seien, aber er antwortete mir: „Es gibt viele Verwundete wie dich, aber es gibt nicht genug Platz für alle“.

Waren viele Verletzte im Krankenhaus?

Da war ein Mann aus Bohdaniwka, dem war die Ferse zerschmettert. Die Ärzte mussten ihm das Bein amputieren. Ein anderer Mann aus Bohdaniwka hatte auch ein amputiertes Bein. Er ging in seinen Garten und trat auf eine Mine. Er verletzte sich am Bein und bekam Wundbrand. Er lag vier Tage im Krankenhaus und starb dort. Dem ersten Mann wurde das Bein amputiert, aber die Ärzte gaben ihm eine Prothese.

Ist die russische Armee am 8. März in Bohdaniwka einmarschiert?

Ja, das taten sie. Sie wollten am 9. März nach Kyjiw. Ich habe ihre Panzer auf unserer Straße gesehen. Damals zählte ich 88 Einheiten ihrer Ausrüstung. Dann wurden sie bei Skybyn geschlagen und kamen zurück. Einige flohen nach Dymerka (ein Dorf in der Region Kyjiw), andere kamen in unser Dorf zurück. Sie durchsuchten unser Haus und suchten sogar nach Waffen. Wie können meine Frau und ich Waffen haben? Ich sagte ihnen, die Russen hätten auf mich geschossen, und er (ein russischer Soldat) antwortete, die Ukrainer hätten auf mich geschossen, nicht die Russen. Bin ich blind oder dumm? Weiß ich nicht, dass die Russen auf mich geschossen haben?

Auf dem Panzer saß ein russischer Soldat. Als ich auftauchte, hob er sein Maschinengewehr und begann, auf mich zu schießen.

Der Soldat sagte, dass ein Arzt kommen würde, um meine Wunden zu behandeln. Sie (der Soldat und der Arzt) kamen, um nach mir zu sehen, und gaben mir einige Medikamente. Sie sagten, sie würden mich später ins Krankenhaus bringen. Ich fragte: „Das in Browary?“ – Sie antworteten: „Nein, nach Bobrowytsa (eine Stadt in der Region Tschernihiw)“. Ich sagte, dass ich nicht dorthin fahre. Am nächsten Tag kamen sie wieder und ich sagte erneut, dass ich nicht dorthin gehen würde. Ich sagte, dass die Wunde schon heile, obwohl sie in Wirklichkeit nicht schnell heilte. Ich hatte Angst, dass sie mich entweder nach Russland bringen würden oder, was noch schlimmer wäre, dass sie mich in ihrem Transportpanzer an einen unbekannten Ort bringen würden. Und woher sollte unser Militär wissen, dass ein Ukrainer in einem russischen Transportpanzer sitzt? Sie würden aus Versehen sowohl den russischen Transportpanzer als auch mich erschießen. Also habe ich mich geweigert, mit den Russen zu fahren. Zum Glück bin ich zu Hause geblieben. Am Ende ging alles gut aus, die Wunde eiterte nicht. Es war gut, dass die einheimischen Frauen Medizin hatten, sie haben mich geheilt. Wir haben uns alle im Keller versteckt, auf nackten Matratzen.

Wie sind Sie in den Keller gekommen, als Sie angeschossen wurden?

Ganz langsam und vorsichtig.

Haben Sie viel Blut verloren?

Natürlich. Als ich in den Keller kam, haben die Frauen dort meine Wunden mit sauberen Tüchern zugedeckt. Oben gab es Explosionen, wir verließen den Keller nicht. Später gingen wir wieder ins Haus. Ich fing an, Antibiotika zu nehmen, nur so konnte ich überleben. Ohne diese hätte mir alles Mögliche passieren können. Die Wunde hätte sicher geeitert, wenn ich die Medikamente nicht genommen hätte.

Was ist in Bohdaniwka passiert, als die Russen kamen?

Eine Granate traf ein Haus in der Nähe des Kindergartens und die Wand stürzte ein. Zu diesem Zeitpunkt war eine Frau mit ihrem Mann und ihrer Mutter im Haus. Die Mauer fiel und die Frau hatte ein gebrochenes Rückgrat. Und der Mann hatte ein oder zwei Granatsplitter im Arm. Er hat mir sogar die Splitter gezeigt. Beide waren mit mir im Krankenhaus. Wir wurden am selben Tag gemeinsam evakuiert. Die Russen stellten ihr Militärgerät in der Nähe der Häuser auf. Sie rissen Zäune nieder und fuhren in die Höfe. Neben dem Haus unseres Nachbarn zum Beispiel stand Militärgerät. Dort steht ein dreistöckiges Haus, also war ein Panzer in der Nähe und ein Scharfschütze saß auf dem Dach des Hauses.

Durften Sie das Haus verlassen?

Die Russen sagten uns, wir sollten nicht rausgehen. Unsere Nachbarin war bei uns im Keller, also ging sie raus. Sie musste ihre Kuh hüten. Aber sonst ist niemand rausgegangen. Eines Tages fuhr ein Mann mit seinem Auto und sah plötzlich russischer Panzer auf sich zukommen. Er wendete und fuhr zurück. Er fuhr einen weißen Jeep, also schossen sie (das russische Militär) auf den Jeep. Das war am 8. oder 9. März. Wir hatten Angst und verließen das Haus nicht.

Wurde Bohdaniwka beschossen?

Ja, es wurde beschossen. Eines Tages stand ich in der Nähe meines Hauses und plötzlich explodierte etwas in der Nähe, aber ich wusste nicht genau, wo. Und ich hörte, wie Granatensplitter auf das Dach des Hauses fielen. Ich habe mich dann sofort im Keller versteckt.

Gab es Probleme mit der Strom- und Gasversorgung?

Wir hatten Strom und Gas bis etwa zum 8. März. Dann wurde der Strom abgestellt. Und dann ist am 8. März irgendwo eine Granate eingeschlagen. Sie traf eine Leitung und wir hatten kein Gas mehr. Das Gas kam wieder, als ich nach dem 7. April aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Wir hatten also einen Monat lang weder Strom noch Gas.

Mychajlo’s Haus

Die Russen gingen um die Häuser herum und überprüften sie. Sie fragten, ob wir Waffen hätten, sie überprüften sogar unseren ersten Stock. Meine Frau öffnete die Tür. Sie schauten, wie weit man aus dem Fenster sehen konnte und gingen wieder. Wahrscheinlich wollten sie dort ihren Scharfschützen postieren. Ich war damals nicht zu Hause, sondern im Krankenhaus.

Während Sie im Krankenhaus waren, blieb Ihre Frau zu Hause?

Ja, sie blieb zu Hause.

Was hat sie erzählt?

Nun sie und unsere Nachbarin konnten fliehen. Sie lebten etwa drei Tage in einem anderen Haus.

Warum sind sie geflohen?

Es wurde ständig geschossen und es war nicht sicher. Dort, wohin sie hingelaufen sind, wurde kaum geschossen. Also haben sie dort eine Zeit lang gelebt. Sie hatten dort einen Keller und eine Heizung. Und dann, am 29. März, als die Russen in die Wälder flohen, begannen sie dort, wo sie wohnten, sehr stark zu schießen. Meine Frau hat mir erzählt, dass das sehr beängstigend war. Gott sei Dank haben sie überlebt.

Wurden in Bohdaniwka viele Häuser zerstört?

Viele Häuser wurden zerstört. Die Schule ist abgebrannt, der Kindergarten und das Krankenhaus sind zerstört. Im Krankenhaus wurde alles auf den Kopf gestellt. Offensichtlich haben die Russen dort etwas gesucht. Als ich evakuiert wurde, sah ich das Auto eines Nachbarn mit herausgeschossenen Fenstern. Die Leute sagten, die Russen hätten einen Mann in Rudnja (ein Dorf in der Region Kyjiw) gefangen genommen und geschlagen, aber er konnte fliehen und überlebte. Wir hatten hier zwei Geschäfte, die beide abgebrannt sind. Das eine war ein Lebensmittelgeschäft, das andere ein Metallgeschäft. Um den 12. März kamen die Russen und fingen an zu schießen. Das Metallgeschäft fing Feuer, das Feuer griff auf das Lebensmittelgeschäft über und beide Geschäfte brannten nieder. Die Russen haben viel Schaden angerichtet. Sie verbrannten sogar den Traktor und den Bagger von jemandem. Das ist alles, was ich weiß.

Was ist mit Ihrem Eigentum?

Alles ist in Ordnung. Meine Frau war zu Hause, also wurde nichts gestohlen. Wir hatten Glück. Das einzig Schlimme war, dass ich angeschossen wurde.

Wie fühlen Sie sich jetzt?

Mir geht es gut, aber manchmal fühlt es sich an, als würde mir jemand drei oder vier Nadeln ins Bein stechen. Die Wunde ist verheilt, aber die Durchblutung ist schlecht. Manchmal tut mein Bein noch weh.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Ich möchte weiterleben. Ich glaube, dass diese Idioten (das russische Militär) aus unserem Land vertrieben werden! Ich glaube, wir werden bald siegen und alles wird gut. Das hoffen alle. Ich glaube, Amerika und der Westen werden uns helfen. Und alles wird gut.

Hat sich Ihre Einstellung zu den Russen geändert?

Ich hasse diese Russen! Sie reden immer von „brüderlichen Nationen“, aber was für Brüder sind sie für uns?! Sie sind Monster, das sind sie! Das sind keine slawischen Brüder, das sind russische Mörder! Das kann ich Ihnen sagen. Haben sie die Menschen nicht genug verhöhnt? Haben sie nicht genug Menschen umgebracht? Haben sie nicht genug Häuser zerstört? Unsere Autos? Unsere Kinder? Sie kämpfen nicht gegen Soldaten, sie kämpfen gegen Menschen – Zivilisten, die ihnen nichts getan haben. Sie töten und foltern. Und es ist die Schuld von Putin und allen anderen! Es ist auch die Schuld der russischen Armee! Ihre Soldaten hätten offen sagen können, dass sie nicht schießen. Oder nicht? Ich denke schon. Aber sie sind in unser Land gekommen und haben auf uns geschossen… Warum töten sie Zivilisten? Warum töten und foltern sie unsere Kinder? Ich habe in den Nachrichten gelesen, dass sie irgendwo ein 14-jähriges Mädchen vergewaltigt haben… Warum tun sie das unseren Kindern an? Alles ist ihre Schuld, alles ist Russlands Schuld! Es gibt dort keine Unschuldigen.

Das Interview wurde von der Charkiwer Menschenrechtsgruppe vorbereitet und von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte übersetzt.

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