Folter produziert Extremisten

Willkürlich verhaftet, willkürlich gefangen gehalten und gefoltert. So wurde aus dem unbeteiligten Schüler Mahmoud Shafiq ein islamistischer Fanatiker, der sich und 29 andere Menschen bei einem Anschlag in einer Kirche in Kairo in den Tod riss. Das Bild zeigt ihn in einem Video des „Islamischen Staates Ägypten“. (Bild: „Islamischer Staat Ägypten“)

Islamistische Gruppen erhalten in Ägypten starken Zulauf. Ein wichtiger Grund dafür ist die berüchtigte Willkür von Polizei und Geheimdienst. Misshandlungen und Folter verbittern jeden, der in die Fänge des „Sicherheits“-Apparates gerät. Tausende werden verhaftet, die Mehrheit von ihnen völlig willkürlich im Umfeld von Demonstrationen. Im Gefängnis geraten sie dann umso leichter in den Einfluss von islamischen Scharfmachern. Folter macht das schwarz-weiß Weltbild der Islamisten für die Zweifler plausibel und treibt die Opfer den Extremisten in die Arme.

Ein verheerendes Attentat im Zentrum Kairos hat in Ägypten den Blick auf ein brandgefährliches Problem gelenkt: In den Gefängnissen werden Häftlinge radikal – oder in ihrer Radikalität noch weiter bestärkt. Radikalisierung in Gefängnissen spielt sich schon seit Jahrzehnten ab – so wie Willkür und Folter. Doch erst jetzt hat in der Öffentlichkeit (wieder) eine Diskussion begonnen, weil mehr Informationen über den Selbstmordattentäter vom 11. Dezember 2016 bekannt wurden.

Der damals 19-jährige Mahmoud Shafiq war 2013 auf dem Schulweg zufällig in der Nähe einer Demonstration von Muslimbrüdern gewesen. Die Polizei verhaftete ihn mitsamt seinen Schulsachen wahllos, so wie hunderte andere, die vermutlich ebenso unbeteiligt waren. Mahmouds verstorbener Vater war Armeeoffizier. Sein Sohn hatte, soweit bekannt, in keiner Weise eine Nähe zum Islamismus. Die Staatsanwaltschaft war rasch selbst davon überzeugt, dass Mahmoud kein Mitglied der Muslimbrüder war, die in Ägypten Rivalen des Militärs um die Macht waren und als terroristische Organisation verfolgt werden. Trotzdem ließen die Behörden Mahmoud Shafiq nicht einfach frei, sondern behielten ihn ein Jahr lang – wohl prophylaktisch zur Abschreckung – in „Präventivhaft“. Wie tausende andere Häftlinge folterte ihn erst die Polizei und dann das Gefängnispersonal. Das hatte dramatische Folgen. Bei seiner Freilassung war der junge Mann nicht mehr derselbe. Er tauchte unter und schloss sich dem „Islamischen Staat“ an. Was die Ideologie der Islamisten vorher nicht geschafft hatte, erreichten Willkür und Folter des ägyptischen „Sicherheits“-Apparates. Shafiq tötete während eines koptischen Gottesdienstes 29 andere Menschen und verletzte über 40 weitere.

 

Folter und Isolation führen zu Radikalisierung

Einige ehemalige Gefangene haben über ihre Erlebnisse in den Gefängnissen Ägyptens gesprochen – vor allem, nachdem sie im Ausland in Sicherheit waren. Sie berichten, wie die traumatische Erfahrung von Folter und Hilflosigkeit das Denken verändert. Die schwarz-weiße Welteinteilung der Islamisten in Gut und Böse wird immer plausibler, je mehr die Opfer gefoltert werden. Alle Behauptungen der staatlichen Medien werden in Frage gestellt. Auch die, dass die dschihadistischen Feinde der Regierung bloß Mörder sind. Der Glaube ist das Letzte, was Halt gibt, und so wird  der „Islamische Staat“ für das Folteropfer, das sich nach Rettung sehnt, schließlich immer mehr zu einem Erlöser.

Isolation und Besuchsverbote verstärken diese Entwicklung. Die Propaganda über angebliche Siege der Islamistenmiliz ist für die Häftlinge viel glaubhafter, da sie von Informationen aus der Außenwelt weitgehend abgeschnitten sind. So haben Mithäftlinge einen viel größeren Einfluss. Der „Sicherheits“-Apparat hat sich früher bemüht, gefährliche Extremisten getrennt gefangen zu halten. Doch durch die enorme Zahl der Verhaftungen ist das längst unmöglich. Zwischen der Entmachtung der Muslimbrüder im Juli 2013 bis Ende 2016 soll die ägyptische Regierung den Bau von 16 weiteren Gefängnissen begonnen haben. Aber das Regime verhaftet so viele Menschen, dass die tatsächlichen islamischen Extremisten nicht von den übrigen Gefangenen getrennt werden können.

 

Tausende willkürlich verhaftet

Wie viele Menschen Polizei und Geheimdienst in Ägypten seit der (erneuten) Machtergreifung des Militärs am 3. Juli 2013 willkürlich verhaftet haben, ist unbekannt. Fest steht, dass es Tausende sind. Das „Ägyptische Koordinierungsbüro für Rechte und Freiheit (Egyptian Coordination for rights and freedoms, ECRFEG) spricht für das Jahr 2013 von über 8.000, für 2014 von über 32.000 und für 2015 von rund 23.000 Menschen, von denen weniger als ein Drittel später freigelassen wurden. Andere Schätzungen sind zum Teil noch deutlich höher. Nachprüfen lassen sich die Angaben nicht, denn Menschenrechtsarbeit wie in Europa ist in Ägypten unmöglich. Die Regierung versucht nicht nur, die Muslimbruderschaft auszulöschen, sondern verfolgt auch die Menschenrechtsbewegung erbittert.

 

Déjà-vu

Mahmoud Shafiq sprengte sich am 11. Dezember 2016 während eines Gottesdienstes in der St.-Peter-und-Paul-Kirche in Kairo in die Luft. Er tötete 29 Menschen – überwiegend Frauen und Kinder – und verletzte über 40 weitere, zum Teil schwer. Die Kirche liegt unmittelbar neben der Kathedrale von Kairo, dem Symbol des christlichen Ägyptens. In der ägyptischen Öffentlichkeit wird die Radikalisierung durch die Haftbedingungen immer deutlicher wahrgenommen. (Bild: „Islamischer Staat Ägypten“)

Dass Gefängnisse zu Brandbeschleunigern islamistischer Ideologien werden, ist keine neue Entwicklung. Schon unter den früheren Präsidenten Gamal Abdel Nasser und Anwar al-Sadat wurden die Haftanstalten zu Brutstätten des dschihadistischen Islams. Wie Ägyptens gegenwärtiger Präsident, Feldmarschall Abd al-Fattah al-Sisi, stammten auch seine Vorgänger Nasser, Sadat und Mubarak aus dem Militär. Sie alle antworteten auf innenpolitische Herausforderungen vor allem durch Einschüchterungen, Verhaftungen, weitere Verhaftungen und noch mehr Verhaftungen. Die systematisch eingesetzte Folter zeigte aber nicht nur die gewünschte Wirkung.

Der ägyptische Journalist Sayyid Qutb war Theoretiker der ägyptischen Muslimbruderschaft. Den größten Teil seiner radikalen Schriften verfasste er im Gefängnis und wurde zu einem der wichtigsten islamistischen Denker des 20. Jahrhunderts. Damals rekrutierten Muslimbrüder und Dschihadisten viele ihrer Anhänger in den Gefängnissen. Heute ist es der „Islamische Staat“.

 

Regierung ignoriert Ursachen des Extremismus

Die wichtigste Ursache des Terrors in Ägypten wird von der Regierung vollständig geleugnet: Es ist der islamische Fundamentalismus. Das Regime bekämpft ausschließlich die politischen Strömungen des Islamismus, die eine direkte Bedrohung der Macht des Militärs darstellen, vor allem die Muslimbrüder. Den religiösen Fundamentalismus – Grundlage und Ursprung aller islamistischen Strömungen – ignoriert die ägyptische Regierung dagegen. Unpolitische aber viel radikalere Gruppen als die Muslimbrüder ignoriert sie ebenfalls. Bisher weigert sich die Regierung überhaupt anzuerkennen, dass der Terror eine religiöse Komponente hat. Salafistische Prediger, Gruppen und Privatsender verbreiten derweil mit Energie und Erfolg ihr fundamentalistisches Weltbild voller Hetze.

 

Weitere Infos

Der Ägypter Mustafa Abdu hat mit mehreren ehemaligen Häftlingen in Ägypten gesprochen. Seine Erfahrungen hat er in einem Beitrag zusammengefasst und im Portal Qantara der Deutschen Welle im Februar 2017 veröffentlicht:

[zu „Wie Häftlinge zu Dschihadisten werden“, Qantara …]
[mehr Infos zu Folter und barbarischen Strafen finden Sie hier …]
[mehr Infos zu Menschenrechten in Ägypten …]

 

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