Kurdistanreise – Mai/Juni 2024
Die IGFM vor Ort in Kurdistan/Irak
Reisebericht
Zum Ende Mai 2024 unternahm der Leiter der humanitären Hilfe Naher Osten, Khalil Al-Rasho, eine weitere Reise in die autonome Region Kurdistan/Irak. Auf dieser Reise verschaffte sich der IGFM-Mitarbeiter einen Überblick über die aktuelle Lage der Geflüchteten und deren Leben in den Camps. Die IGFM leistet seit 2014 humanitäre Hilfe in der Region, regelmäßig finden Hilfstransporte sowie Besuche der Lager durch Mitarbeiter statt.
Ein großes Thema war die Rückkehr nach Shingal. Vor allem die Jesiden mussten die Region 2014, wegen des IS verlassen. Nun sind zehn Jahre vergangen und sie sollen wieder zurückkehren. Dafür werden sie von der irakischen Zentralregierung unterstützt. Jede Familie, die sich bis Juli als Geflüchtete registriert hat und wieder nach Shingal zieht, soll laut Regierung 4 Mio. irakische Dinar erhalten. Außerdem gibt es weitere Organisationen, die die Rückkehrer unterstützen. Die International Organization for Migration (IOM) fördert 90 von 655 Familien des Camp Shekhans bei dem Wiederaufbau ihrer Häuser und mit einer einmaligen Geldspende pro Familie. Khalil Al-Rasho schätzt die Rückkehr nach Shingal jedoch kritisch ein.
Bewaffnete Gruppen sind noch immer präsent und die Infrastruktur ist instabil. Hinzu kommt, dass sich die meisten Menschen in den Camps integriert und dort ggf. auch schon einen Job haben. In Shingal gibt es jedoch keine sichere berufliche Zukunft. Auch werden die 4 Mio. irakischen Dinar der Zentralregierung als zu wenig angesehen. Eine Rückkehr ist noch mit zu vielen Risiken für die Menschen verbunden. Trotzdem gibt es einige, die sich dafür registriert haben. In Camp Scharia sind es 150 von 2.271 Familien. 40 von ihnen sind bereits nach Shingal zurückgekehrt und haben das Geld der Zentralregierung erhalten. 60 weitere sind aus dem Camp gezogen, jedoch nicht nach Shingal. Auch sie haben die 4 Mio. Dinar erhalten. Die 50 weiteren Familien leben noch immer im Camp.
Ehemaliges Wohnhaus einer nun nach Shingal zurückgekehrten Familie im Camp Shekhan. Bild: IGFM
Neben den Gesprächen mit den Campleitungen über die Rückkehr nach Shingal hat sich Al-Rasho auch mit lokalen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) getroffen. Eine davon ist die Barzani Charity Foundation (BCF). Sie ist die wohl größte NGO in Kurdistan und ein langjähriger Projektpartner der IGFM. Während seines Aufenthalts begann nun auch ein neues Projekt in Kooperation mit der BCF. Dazu folgen weitere Informationen.
Eine weitere NGO, mit der sich Al-Rasho traf, ist „The Lotus Flower“. Sie setzt sich gesondert für Frauen und Mädchen ein und wird auch von Frauen geführt. Die IGFM begleitet und unterstützt die Organisation seit ihrer Gründung und organisierte schon einige Projekte mit ihnen zusammen. Diese Zusammenarbeit soll auch weiterhin bestehen. Deshalb besprachen eine Vertreterin der Organisation und Al-Rasho weitere Ansätze, um Frauen und Mädchen zu stärken.
Links: Gespräch mit BCF in Duhok; Rechts: Die IGFM im Gespräch mit Vian Ahmed (links im Bild) von The Lotus Flower. Bilder: IGFM
Weiterhin hat die IGFM gespendete Hörgeräte nach Kurdistan liefern können. Al-Rasho diskutierte mit den Generaldirektoren für Gesundheit von Duhok und Erbil, wer und wo die Hörgeräte am dringendsten gebraucht werden, wie sie verteilt werden und was für deren Einsatz noch benötigt wird.
Ein weiterer Themenblock der Reise waren Projekte und Kurse in den Camps. In Camp Esyan gab es in der Vergangenheit bereits einige Nachhilfe- und Alphabetisierungskurse. Auch wurden die Schulen grundsätzlich mit Spenden unterstützt. Diese Kurse und Unterstützungen werden von der Campleitung als sehr effektiv eingeschätzt. Die Schülerinnen und Schüler erzielten dadurch bessere Noten. Nun wünschen sie sich weitere Bildungskurse.
Mitarbeiter der IGFM mit dem Gesundheitsdirektor Afrasiab Musa (Mitte). Bild: IGFM
Im Camp Khanke musizierte und sang Al-Rasho mit unserem dortigen Musikkurs. In diesem Rahmen teilte ihm der Musiklehrer mit, dass er die Region verlassen werde und den Kurs nicht weiterführen kann. Nun muss eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger gefunden werden. Ein anderes Problem stellt die Stromversorgung dar. Bei aktuell fast 40 Grad sind die Menschen im Camp auf Klimaanlagen angewiesen. Diese verbrauchen aber so viel Strom, dass sie gelegentlich ausfallen. Grundsätzlich kommt es immer wieder zu Stromausfällen. Al-Rasho setzte sich daraufhin mit der Campleitung in Verbindung, um gemeinsam nach einer zeitnahen Lösung zu suchen.
Wie bereits erwähnt gibt es ein neues IGFM-Projekt in Kooperation mit der Barzani Charity Foundation (BCF). Dieses findet in Camp Kabarto II statt und konnte nun beginnen. Dazu werden Geflüchtete des Camps in drei handwerklichen Berufen – Schlosser, Tischler oder Elektriker – ausgebildet. Dies findet im Rahmen eines 6-monatigen Intensivkurses statt. Anschließend sollen sie sich selbstständig machen und ein Unternehmen gründen. Das Ziel ist zum einen, den Geflüchteten eine berufliche Zukunft zu ermöglichen und zum anderen die wirtschaftliche Situation der Region zu verbessern. Ein wichtiger Aspekt war die Teilnahme von Frauen. Das ist gelungen. Zehn der 30 Teilnehmer sind Frauen – eine hohe Quote für ein solches Projekt.
Al-Rasho lernte nun die Auszubildenden und Lehrkräfte das erste Mal persönlich kennen. Shero Simo, ein Mitarbeiter der BCF, gab eine Einführung in das Projekt. Er teilte ihnen den Ablauf und das Ziel mit und besprach die finanzielle Unterstützung während der Ausbildung und für den Start ihres Unternehmens. Er thematisierte außerdem die Rückkehr nach Shingal. Sollten sie innerhalb der halbjährigen Ausbildung das Camp verlassen, fehlen Teilnehmer und die freigewordenen Plätze könnten nicht ohne weiteres gefüllt werden. Der Erfolg des Projekts kann darunter leiden und das Ziel verfehlt werden.
Der Musikkurs im Camp Khanke. Bild: IGFM
Doch auch mit Einzelschicksalen setzte sich Al-Rasho auseinander. Im Camp Shekhan besuchte er eine jesidische IS-Überlebende. Noch immer befinden sich viele jesidische Frauen in IS-Gefangenschaft. So gibt es hin und wieder Personen, die freikommen und von ihrem Schicksal erzählen. Sie ist eine dieser Personen. Jedoch spricht sie selbst nicht von einer Befreiung. Dazu später mehr. Im Jahr 2014 wurde ihre Familie und sie von der Terrormiliz Islamischer Staat verschleppt. Sie erzählte von ständigen Misshandlungen und dass sie mehrmals weiterverkauft wurde. Aus ihrer Gefangenschaft hat sie zwei Kinder. Als sie 2024 nach zehn Jahren entdeckt und aus dem IS-Camp Al hol nach Shekhan gebracht wurde, wurden ihre Kinder in einem Waisenhaus untergebracht. Sie sieht ihre Befreiung nicht als solche an, da sie in dem Zuge von ihren Kindern getrennt wurde.
Im Al hol-Camp konnte sie mit ihnen zusammenleben. Es bricht die einzige Stütze weg, die sie in ihrer Gefangenschaft als Familie bezeichnen konnte. Für sie ist es mehr ein Verlust, als ein Gewinn. Auch im Camp Shekhan haben sich ihre Lebensumstände nicht drastisch verbessert. Sie lebt nicht bei ihrer direkten Familie, sondern bei Verwandten. Ihre Mutter befindet sich noch immer in IS-Gefangenschaft und ihr Vater ist seit 2014 verschwunden. Ihre Geschwister haben sich mittlerweile ein eigenes Leben aufgebaut und Familien gegründet. Die Überlebende möchte zurück zu ihren Kindern – ihrer eigenen Familie. Das würde aber bedeuten, das Camp verlassen zu müssen und sich allein ein Leben aufzubauen, denn ihre Kinder werden in ihrer Gemeinde nicht akzeptiert. Al-Rasho wird mit ihr mögliche Lösungen für ihre Situation besprechen.
Ein anderes schweres Schicksal traf die christliche Familie in Alkosh, dessen zwei Söhne (15 und 4 Jahre alt) mit der Hauterkrankung Epidermolysis Bullosa leben. Die Krankheit wird auch Schmetterlingskrankheit genannt, da die Haut so verletzlich, wie die Flügel eines Schmetterlings sind. Die hohen Temperaturen von bis zu 50 Grad im Hochsommer und das trockene Klima macht es für die beiden Brüder unerträglich. Die Krankheit kommt nur sehr selten vor. Entsprechende Medikamente sind teuer. Die sechsköpfige Familie kann sich diese auf Dauer nicht leisten und sind auf Spenden angewiesen. Die IGFM unterstützt die Familie bereits seit einiger Zeit finanziell. Auch diesmal übergab ihnen Al-Rasho eine Geldspende, um sich vorerst einige der Medikamente leisten zu können.
Links: Der Leiter der humanitären Hilfe Naher Osten, Khalil Al-Rasho, im Gespräch mit einer IS-Überlebenden. Rechts: Al-Rasho mit den von der sogennanten „Schmetterlingskrankheit“ betroffenen Kindern. Bilder: IGFM
Ein Bericht von Frederike Seelig.