„Unser Evakuierungszug wurde beschossen“ – Erinnerungen einer Regisseurin aus Irpin
Interview vom 30.01.2024
Oleksandr Wasilijew
„Am 24. Februar 2022 war ich in Irpin, wo ich lebte. Der Krieg erwischte mich, wie die meisten Ukrainer, im Bett. An diesem Tag bereitete ich mich auf die Arbeit vor. Es sollte eine Dreharbeit sein – ich arbeitete als zweite Regisseurin an einem Spielfilm. In Irpin verbrachte ich die ersten zehn Tage der Invasion: ich hörte Explosionen, Beschüße.
Diese ersten zehn Tage verbrachte ich mit meinen Eltern in einem Haus, das ich gemietet hatte. Ich hörte, wie ein Jagdflugzeug einen Luftangriff auf den Wohnkomplex „Novoirpinsky Lypky“ flog. Es traf eines der Gebäude, in dem meine Freundin für ihre Mutter eine Wohnung gekauft hatte. Es war erschreckend, als ich den Sound eines Panzers hörte, der auf der nahegelegenen Straße fuhr. Selbst wenn man noch nie einen Panzer gehört hat, kann man es mit nichts anderem verwechseln.
Das Schlimmste ist nicht der Panzergeräusch selbst, sondern der Moment, wenn es plötzlich aufhört.
Du verstehst, dass der Panzer jetzt an seine Position gefahren ist, der Turm sich gleich drehen wird und wahrscheinlich jetzt ein Schuss abgegeben wird. Das bedeutet, du musst schnell in Deckung gehen, weil der Schuss in deine Richtung gehen könnte. Es ist auch schwer, das Geräusch eines Jagdflugzeugs mit etwas anderem zu verwechseln, denn in einem solchen Moment reagiert dein Körper unabhängig vom Bewusstsein. Du denkst nicht mehr nach, dass du dich verstecken solltest, du bist bereits in Deckung.
Olga Gdulja, Irpin
Die letzten drei Tage vor der Evakuierung verbrachten wir am Boden. Ich scherzte damals, dass wir ein intensives „Bodenleben“ führten. Wir aßen auf dem Boden, schliefen auf dem Boden und lasen auch die Nachrichten auf dem Boden. Die Beschüsse waren so intensiv, dass es einfach gefährlich war, in einer aufrechten Position zu bleiben.
Am 4. März entschloss ich mich, zu evakuieren. Am 5. März sammelte ich eine kleine Menge Sachen: Festplatten mit Arbeitsmaterialien, meinen Laptop, meine Katzen in einer Tragetasche und ein paar notwendige Dinge. Damit ging ich zum Bahnhof in Irpin. Dort warteten wir auf den Evakuierungszug, einer der Waggons steht heute als Ausstellungsstück auf dem Mikhailivska-Platz in Kiew.
Der beschossene Evakuierungswagen aus Irpin wurde auf dem Michajliwska-Platz in Kiew ausgestellt.
In diesem Waggon sollte ich von Irpin nach Kiew fahren. Aber uns wurde mitgeteilt, dass der Zug angegriffen worden war, vom Gleis abgekommen war und wir deshalb nicht evakuieren konnten. Wir mussten alle zur zerstörten Brücke bei Romanivka gehen. Es war diese Brücke, die später als „Brücke des Lebens“ bekannt wurde.
Ich hatte erneut Glück – ich fand die Telefonnummer eines lokalen Volunteers, der mich, meinen Rucksack, meine Katzen aufnahm und uns zur Brücke brachte. Dort verbrachte ich eine Weile unter der Brücke, weil wir auf unsere Gelegenheit warten mussten, sie zu überqueren: wir wurden in Gruppen durchgelassen.
Nachdem wir die Brücke überquert hatten, erreichten wir die Busse. Ich kam sogar in die Nachrichten, weil Frau Marina Poroshenko mir half, in den Bus zu steigen. Später schickten mir alle Freunde Screenshots aus den Nachrichten, auf denen ich mit etwas Unverständlichem auf dem Kopf und einem verzerrten Gesicht zu sehen war (lacht). Ich scherzte, dass dies der Moment war, als das Land mich sah, aber in diesem Zustand.
Olga Gdulja befindet unter der „Brücke des Lebens“ in Romanivka. Evakuierung
Hast du von den Kriegsverbrechen der Russen in Irpin gehört?
Ich hörte die Geschichte einer Maniküristin, bei der meine Mutter immer ging. Während eines Beschusses war sie mit ihrem Mann im Hof ihres Hauses.
Vor ihren Augen starb ihr Mann an den Trümmern, sie musste ihn selbst im Hof begraben. Danach wurde ihr klar, dass, wenn sie auch sterben würde, niemand mehr da wäre, um sie zu begraben.
Sie ging auf ihr eigenes Risiko eine Straße entlang, die unter Beschuss stand. Sie wusste nicht einmal, was sie tat, sie war in einem Schockzustand. Zum Glück gelang es ihr, zu evakuieren. Einige meiner Bekannten blieben unter Besatzung. Sie mussten in ihren Wohnungen bleiben, weil sie Angst hatten, nach draußen zu gehen, da dort Russen waren.
Wurde dein Eigentum beschädigt?
Ich lebte in einem gemieteten Haus. Zum Glück wurden weder meine Wohnung noch die meiner Eltern beschädigt. Alles, was bei uns beschädigt wurde, war das Auto, das wir im Hinterhof geparkt hatten. Eine Mine traf es, und das Auto musste zum Schrottplatz gebracht werden.
Am 6. März 2022 fuhr ich von Kiew nach Lwiw, wo Freunde auf mich warteten. Ich verbrachte dort zwei Tage. Im April und Mai 2022 war ich in Berlin. Ich versuchte, mich dort zu integrieren, aber wie sich herausstellte, passte das Leben als Vertriebene nicht zu mir. Also entschied ich mich, in die Ukraine zurückzukehren.
Werde ich nach Irpin zurückkehren? Vielleicht. Aber im Moment lebe ich in der Stadt Turka in der Oblast Lwiw. Hier habe ich Arbeit. Ich arbeite, ich bin gebraucht.
Olga Gdulja hat in der Region Lwiw ihr Café „Irpiner Höfchen“ eröffnet.
Das Interview wurde von der Charkiwer Menschenrechtsgruppe vorbereitet und von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte übersetzt.