Werden Christen stärker verfolgt?

Im Irak haben sunnitische Islamisten Jesiden und Schiiten noch weit grausamer verfolgt als Christen. Aber wie ist die Situation auf globaler Ebene? Das Bild zeigt einen IGFM-Mitarbeiter, der selbst Jeside ist vor einer von sunnitischen Muslimen zerstörten schiitischen Moschee im Nordirak. Gleichwohl haben im Irak schiitische Milizen als Antwort auf die systematische Ermordung von Schiiten ihrerseits wahllos sunnitische Muslime ermordet. Bild: IGFM.

Werden Christen stärker verfolgt als andere Religionen?

Die Frage, welche die am stärksten verfolgte Religionsgemeinschaft ist, liegt nahe. Seriös beantworten lässt sie sich nicht. Warum? Es ist völlig unklar, wie viele Menschen insgesamt weltweit um ihres Glaubens willen verfolgt sind. Dasselbe gilt für die Zahl der verfolgten Christen, Buddhisten, Sunniten, Schiiten usw. Die oft zitierte Behauptung, dass rund 80% der wegen ihres Glaubens verfolgten Menschen Christen seien hat daher nicht die geringste Grundlage. Diese These hat jedoch eine Eigendynamik entwickelt. Sie wurde und wird vielfach zitiert, in bester Absicht, auch von säkularen Medien. Die Herkunft dieser Zahlen ist unklar, Informationen darüber, wie diese 80% zustande kommen, existieren nicht. Die Zahl ist völlig ungesichert und vermutlich frei erfunden.

Ohne Ausnahme sind Christen nie die einzigen Opfer. Wo sie diskriminiert oder verfolgt werden, gilt dies auch für andere Gruppen. In der „islamischen Welt” leiden Frauen (jeder Religion) z. B. oft unter deutlich stärkeren Einschränkungen als christliche Männer. Andere religiöse Minderheiten oder auch Religionslose werden ebenso – und teilweise erheblich stärker – diskriminiert oder verfolgt. Opfer von extremistischer Gewalt sind auch säkulare und liberale Muslime, Atheisten und Angehörige anderer Minderheiten. Gewalt z. B. gegen Baha‘i oder Schiiten findet leider noch weniger internationales Medieninteresse als die Gewalt gegen christliche Minderheiten.

Sind Muslime die größte verfolgte Religionsgemeinschaft?

Das Christentum ist weltweit die größte Religionsgemeinschaft. Ist es damit automatisch auch die größte verfolgte Religionsgemeinschaft? Systematische Untersuchungen zur Verfolgung anderer Religionsgemeinschaften fehlen. Ein Kandidat für die größte verfolgte Religionsgemeinschaft wäre auch der Islam – vor allem durch sehr heftige konfessionelle Konflikte innerhalb des Islam und durch die Situation im bevölkerungsreichen Indien. Dort leben rund 170 Millionen Muslime, die ebenso wie die indischen Christen unter Hindunationalisten leiden.

In der Volksrepublik China werden Millionen Muslime systematisch unterdrückt. Das gilt besonders für die rund 10 Millionen Uiguren, einem muslimischen Turkvolk, das im Nordwesten der Volksrepublik beheimatet ist. Nach Angaben der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sollen rund eine Million von ihnen in Arbeitslagern gefangen und als Arbeitssklaven ausgebeutet werden. Im bevölkerungsreichsten Land der Erde wären Muslime damit in absoluten und relativen Zahlen sehr viel härter verfolgt als z. B. chinesische Christen.

Im buddhistisch geprägten Myanmar hat die Verfolgung der einheimischen Muslime sogar das Ausmaß eines Völkermordes angenommen. Der Gedanke, dass Muslime die größte verfolgte Religionsgemeinschaft sein könnten, ist irritierend, da sehr viele Muslime vor allem durch die wechselseitige Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten von anderen Muslimen verfolgt werden. Überschlägt man dennoch grob die Zahl der in Indien von Hindus diskriminierten Muslime, der in Pakistan von Sunniten marginalisierten Schiiten und den in der Volkrepublik China verfolgten Uiguren, dann liegt allein durch diese drei Gruppen die Gesamtzahl der Muslime, die in erheblichem Maß diskriminiert oder verfolgt werden, weit oberhalb von 200 Millionen Menschen.

Das Bild zeigt ein Beispiel für die Berichterstattung indischer Medien über die Ermordung des 24jährigen Tabrez Ansari (in der Bildmitte). Ein Mob von Hindu-Extremisten im ostindischen Jharkhand schlug und folterte den jungen Mann am 24. Juni 2019 fast zwölf Stunden lang. Er starb schließlich an seinen Verletzungen. Sie zwangen ihn „Heil dem Herrn Rama“ und „Heil Hanuman“ zu rufen und damit Hindu-Gottheiten zu huldigen. Die Polizei verhaftete elf Personen und suspendierte zwei Polizisten. Ob letztlich ein oder mehrere Täter tatsächlich zur Rechenschafft gezogen werden, war bei Redaktionsschluss noch offen. Im deutschsprachigen Raum wurde nur sehr wenig über diesen Mord berichtet. In anderen Regionen fand Ansaris Schicksal deutlich mehr Beachtung – denn der junge Mann war Muslim. Unterschiedliches Medieninteresse führt zu unterschiedlicher Wahrnehmung. Auch dadurch gibt es verschiedenen Wahrnehmungen, welche Religionsgruppen am härtesten und am häufigsten Opfer religiöser Gewalt ist.

Das Bild zeigt ein Beispiel für die Berichterstattung indischer Medien über die Ermordung des 24jährigen Tabrez Ansari (in der Bildmitte). Ein Mob von Hindu-Extremisten im ostindischen Jharkhand schlug und folterte den jungen Mann am 24. Juni 2019 fast zwölf Stunden lang. Er starb schließlich an seinen Verletzungen. Sie zwangen ihn „Heil dem Herrn Rama“ und „Heil Hanuman“ zu rufen und damit Hindu-Gottheiten zu huldigen. Die Polizei verhaftete elf Personen und suspendierte zwei Polizisten. Ob letztlich ein oder mehrere Täter tatsächlich zur Rechenschafft gezogen werden, war bei Redaktionsschluss noch offen. Im deutschsprachigen Raum wurde nur sehr wenig über diesen Mord berichtet. In anderen Regionen fand Ansaris Schicksal deutlich mehr Beachtung – denn der junge Mann war Muslim. Unterschiedliches Medieninteresse führt zu unterschiedlicher Wahrnehmung. Auch dadurch gibt es verschiedenen Wahrnehmungen, welche Religionsgruppen am härtesten und am häufigsten Opfer religiöser Gewalt ist.

Härtere Verfolgung anderer Religionsgruppen

Solange unklar ist, wie viele Christen wegen ihres Glaubens verfolgt werden, lässt sich nicht sagen, wie hoch der Anteil der Verfolgten unter allen Christen ist. Bei einigen anderen Gruppen, lässt sich darüber mehr sagen: Bevor die buddhistische Meditationsschule Falun Gong in der Volksrepublik China ab dem Juli 1999 verboten und grausam verfolgt wurde, gab es dort nach Angaben staatlicher Medien 70 Millionen Praktizierende (nach Selbsteinschätzung 100 Millionen). Die ganz überwiegende Zahl der Falun Gong Praktizierenden lebte in der Volksrepublik China, so dass zwar nicht alle aber doch annähernd alle Angehörigen verfolgt wurden bzw. werden. Während bei Weitem nicht jeder bekennende Christ in China effektiv diskriminiert wird, so muss praktisch jeder bekennende Falun Gong Praktizierende mit Verhaftung, „Umerziehung durch Arbeit“ und Folter rechnen. Wie viele Falun Gong Anhänger heute noch in der Volksrepublik leben, lässt sich nicht ermitteln. Aber die Zahl von 70 Millionen Menschen läge weit oberhalb der Zahl aller Christen im Mittleren Osten, in Nordnigeria und in Pakistan zusammen. Falun Gong ist dabei nur eine von über zehn verbotenen und verfolgten Meditationsschulen, wenn auch die mit Abstand größte.

Auch bei anderen Religionsgruppen ist der Anteil der Verfolgten vermutlich deutlich größer, als beim Christentum. Zum Beispiel bei den Baha‘i, die mit rund 300.000 Personen die größte religiöse Minderheit in der Islamischen Republik Iran stellen und dort erheblich stärker verfolgt werden als die iranischen Christen. Ebenfalls größer ist wahrscheinlich der Anteil der Verfolgten innerhalb der Jesiden, die – anders als Christen – von Islamisten per se als „Ungläubige“ verfolgt, ermordet oder versklavt wurden und werden.

Wie stark andere Religionsgemeinschaften diskriminiert und verfolgt werden, ist vielen nicht gegenwärtig. Der Hass sunnitisch-islamischer Extremisten richtet sich nicht nur gegen Christen und „Ungläubige“, sondern auch gegen andersdenkende Muslime. Vor allem gegen Schiiten, aber auch gegen Sufis. Das Bild zeigt einen Ausschnitt aus einem dschihadistischen Propaganda-Video. Darin wird der 100-jährige Sufi-Scheich Sulaiman Abu Haraz im ägyptischen Sinai wegen angeblicher „Hexerei“ enthauptet – in einem orangefarbenen Overall wie die Häftlinge in der US-amerikanischen Marinebasis Guantanamo Bay.

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